Also war es noch an jenem Tag, als sie mit meinen Schwiegereltern gemeinsam im Café gesessen und ihre Entlassung geplant hatte, zu dem Zusammenbruch gekommen. Sehr verwunderlich alles.
Erstaunlicher Weise beantwortete er meine nächste, wichtige Frage, bevor ich sie selbst hätte stellen können.
„Ich habe Sie nicht informieren lassen, weil ich Sie nicht kannte“, versuchte er sich bei mir einzuschmeicheln und mich milde zu stimmen. „Frau Reber hat zwar Ihre Adresse bei mir hinterlegt, aber ich war mir nicht sicher, ob es sich dabei um eine wirklich vertrauensvolle Person handelt. Wenn ich Sie natürlich vorher gekannt hätte…“
Eigentlich trotzdem eine Frechheit. Er gab zu, dass er mich bewusst nicht hatte anrufen lassen, angeblich um Tante Sophie zu schützen. Weshalb gab es denn dann eigentlich die „Christliche Patientenverfügung“ überhaupt, deren Vorlage er Tante Sophie selbst zum Ausfüllen überreicht hatte, wenn er als Arzt eigenmächtig entscheiden würde, dass die gewählte Person ungeeignet ist? Aber er hatte eine ganz geschickte Art seinem Gegner den Wind aus den Segeln zu nehmen: Es gelang ihm, sich als ehrlich, selbstlos und mit guten Absichten darzustellen. So richtig konnte ich ihn noch nicht einschätzen und wusste auch nicht so recht, was ich von ihm halten sollte.
Ich besuchte Tante Sophie nun täglich im Krankenhaus und im Gegensatz zu früher schien sie sich nun auf meine ständigen Besuche im Krankenhaus zu freuen. Ganz im Gegenteil, als ich mich einmal stattdessen mit meinem Vater verabredet hatte, befürchtete sie sofort, dass ich aus irgendeinem Grund verärgert war, rief mich an und wollte sich entschuldigen. Dadurch merkte ich, wie wichtig ihr meine Besuche geworden waren. Wie durch ein Wunder war sie wieder vollständig genesen, vorbei das Delirium, und sie weihte mich nun endlich in die auf mich zukommenden bürokratischen Aufgaben ein. Gemeinsam füllten wir Anträge für die Kostenerstattung von der Krankenkasse aus, füllten Überweisungen für die vielen Rechnungen, die inzwischen angefallen waren, aus und fanden trotzdem noch viel Zeit über vergangene Zeiten zu reden. Sie hatte auch ihren Humor wiedergewonnen.
„Es ist schon schwer mit dem Altwerden“, scherzte sie einmal. „Du weißt schon, mir geht es wie den drei Affen: nichts sehen, nichts hören ….“
Ihr Hörgerät war im Krankenhaus verloren gegangen und auch der Bügel ihrer Brille durch das Liegen abgebrochen, wodurch sie bis zur Reparatur kaum etwas sah.
Ein Ereignis ist mir noch besonders gut im Gedächtnis geblieben: Als ich sie zum dritten Mal besuchte –sie war inzwischen schon wieder von ihrer kurzzeitigen Verwirrtheit genesen- saß sie aufrecht in ihrem Bett, die Handtasche auf die Beine gestellt und starrte entsetzt in ihr Portemonnaie.
„Sie haben mir alles herausgenommen, als ich krank im Bett lag“, stellte sie erschüttert fest. „Mein ganzes Geld und meine EC – Karte. Wir müssen sie unbedingt sperren lassen. Bitte wähle für mich diese Nummer der Bank.“
Welche unglaubliche Niedertracht, die Wehrlosigkeit einer todkranken alten Dame derart auszunutzen! Fassungslos riefen wir zusammen ihre Bank an und ließen die EC – Karte sperren, wobei es ihr inzwischen noch nicht einmal Probleme bereitete, ihre mehrstellige Kontonummer aus dem Gedächtnis heraus anzugeben.
„Wieviel Geld hattest du denn in deinem Portemonnaie?“, fragte ich.
„Nun, ich habe diesmal 500 € mitgenommen. Die anderen Male, wenn ich im Krankenhaus war, bin ich hinterher immer noch einmal extra mit der Taxe hierher gefahren und habe mich mit Scheinchen bei den einzelnen Helfern bedankt. Das wollte ich mir diesmal ersparen. Außerdem brauche ich hier ja auch immer etwas Geld, um mir kleine Sonderwünsche zu erfüllen, und - so viel sind ja 500 € nun auch wieder nicht, oder?“
Nun, ich sah das zwar etwas anders, aber das passte zu ihr: Sie war immer ungemein großzügig, bedankte sich mit sehr generösen Geldgeschenken und erkaufte sich auf der anderen Seite damit die Freundlichkeit der Mitmenschen. Jede Kellnerin freute sich natürlich und empfing sie herzlich, wenn sie als Stammgast das Restaurant besuchte, und doch war nie ganz klar, ob diese Freundlichkeit wirklich durch ihre Persönlichkeit und Ausstrahlung oder doch nur durch ihre außerordentliche Großzügigkeit hervorgerufen worden ist. Wahrscheinlich spielte häufig beides eine Rolle, aber es gab sicher auch eine Vielzahl von Mitmenschen, die ihre Freigiebigkeit ausgenutzt haben, was ihr aber oft nicht verborgen blieb.
Im Krankenhaus glaubte ihr aber keiner der Angestellten, dass sie tatsächlich mit 500 € in die Klinik gekommen war, und sie hielten sie immer noch für ein wenig verwirrt.
„Lass sie doch denken, ich sei ein wenig plem – plem, denn das macht mir nichts aus“, versuchte sie mich zu beruhigen, als ich mich über die herablassende Art einer Krankenschwester aufregte.
„Die Leute unterschätzen mich immer und glauben, dass ich vieles nicht mitkriege“, vertraute sie mir ein wenig nebulös an. „Doch da täuschen sie sich. Der Tresorspezialist Priese, zum Beispiel, hat mir damals beim Einbau meines Safes eine Safekarte überreicht, mit der ich bei Bedarf jederzeit einen Schlüssel nachmachen könne. Als die Schlüssel dann aber tatsächlich einmal verloren waren, wollten sie davon nichts mehr wissen. Stattdessen haben sie mir ein neues, teures Schloss verkauft und dachten, ich würde nicht mitbekommen, dass sie mich betrogen haben.“
Viel später sind mir das Ausmaß und der Sinn dieser Bemerkung erst richtig klar geworden.
Mein Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Aussagen wurden belohnt, als ich später einen Blick auf ihren Kontoauszug werfen durfte: Sie hatte am Tag vor dem geplanten Krankenhausaufenthalt 1000 € von ihrem Konto abgehoben, eine Hälfte davon hatte sie in dem Safe in ihrer Wohnung deponiert, die andere hatte sie wirklich mitgenommen.
Ein derartig niederträchtiger Diebstahl musste meiner Meinung nach wenigstens bei der Polizei angezeigt werden, aber sie weigerte sich standhaft.
„Der, der das Geld genommen hat, wird es schon brauchen“, wiederholte sie immer wieder.
Diese eigenartige Logik konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen, jedoch passte sie gut zu dem Spruch aus ihrem Tagebuch:
Tut dir jemand wirklich weh,
dann bedenke, diesem jemand geht es schlecht,
sonst hätte er es nicht getan.
Als sie nach zwei Wochen entlassen wurde, war sie glücklich wieder in ihre Wohnung im Wohnstift zurückkehren zu können und voller neuer Pläne. Sie überlegte, ob sie an dem dort angebotenen Computerkurs teilnehmen sollte oder vielleicht auch an einem Englischkurs. Ich erinnere mich noch, wie sie strahlend in ihrem Sessel saß, die Arme ausbreitete und mich voller neugewonnener Lebensfreude in den Arm nahm.
Leider verpufften diese Pläne wieder, als sie der Alltag einholte. Ganz im Gegenteil, es war ihr peinlich, den vielen neugierigen Fragen und dem Tratsch ihrer Mitbewohner über ihren Gesundheitszustand ausgesetzt zu sein, und sie igelte sich zunehmend in ihrer Wohnung ein. Selbst das Essen ließ sie sich nun im Zimmer servieren und verließ ihre Wohnung zu einem kleinen Spaziergang leider viel zu selten. Immerhin schaffte sie es, mit mir gemeinsam die im Wohnstift ansässige Bank aufzusuchen und mir für ein kleines Unterkonto eine Vollmacht auszustellen. Fortan war ich jetzt wenigstens in der Lage, für sie die Bürokratie und Überweisungen eigenständig zu erledigen.
Es ging gerade einmal vier Wochen gut, dann erreichte mich am Samstagmorgen wieder ein Anruf von ihr. Dass es ihr nicht gut ging, konnte man sofort an ihrer Stimme erkennen und sie versuchte diesmal auch gar nicht erst, die Fröhliche zu spielen. Ich glaube, durch die lange Krankenhauszeit hatte sie gelernt, mir gegenüber ihre heitere Maske, wenn ihr eigentlich gar nicht danach war, abzulegen – und das war gut so.
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