Gegen 9.30 Uhr verließ ich das Krankenhaus und fuhr nach Hause, um wie versprochen Angehörige und Freunde zu benachrichtigen und mich mit dem Beerdigungsinstitut in Verbindung zu setzen. Ich war gerade zu Hause angekommen, hatte nur kurz meinem Mann von dem traurigen Ereignis berichtet, als schon das Telefon klingelte. Es meldete sich der Leiter des Wohnstifts, in dem meine Tante in den letzten Jahren gewohnt hatte.
Herr Meierle klang ein wenig aufgeregt: „Guten Morgen, Frau Anoir. Zunächst möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid zu dem Tod Ihrer Tante aussprechen. Sie war bei uns allen außerordentlich beliebt, und wird uns sicherlich mit ihrer fröhlichen Art sehr fehlen. Soeben hat mich Herr Stark angerufen, mir von dem Ableben berichtet und mir mitgeteilt, dass er gleich in das Wohnstift kommen will, um die Wohnung von Ihrer Tante aufzusuchen. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich ihm den Zutritt verweigert habe, da Frau Reber zu Lebzeiten eine Zugangsberechtigung über den Tod hinaus ausschließlich auf Ihren Namen in unserem Wohnstift hinterlegt hat. Ich kann Ihnen bei Bedarf auch gerne eine Kopie davon machen. Herr Stark erwiderte daraufhin, dass er nun seinerseits ein Schriftstück vorlegen will, dass auch einen Zutritt in die Wohnung rechtfertige. Ich bin ja gespannt, um was es sich da handelt.“
Ich war total sprachlos. Was um Himmels Willen wollte Herr Stark nur eine Stunde nach dem Tod meiner lieben Tante in ihrer Wohnung?
„Ich danke Ihnen sehr, dass Sie mich darüber informiert haben“, brachte ich dann hervor, und nach weiteren freundlichen Worten beendeten wir das Gespräch.
Anschließend telefonierte ich, wie versprochen, das Adressbuch durch und machte einen Termin bei dem Beerdigungsinstitut zur Absprache von Details aus. Wieder klingelte das Telefon.
Diesmal war es mein Mann: „Ich bin ins Krankenhaus gefahren, um mich noch einmal von Tante Sophie zu verabschieden. Stell dir vor, die Krankenschwestern haben mich gleich abgefangen. Ich soll dir ausrichten, dass Herr Stark hier gewesen ist und die Herausgabe der hinterlassenen Gegenstände von Tante Sophie gefordert hat. Da sie bereits mit dir Absprachen getroffen hatten, haben sie Herrn Stark die Herausgabe verweigert, möchten sich jetzt aber rechtlich absichern und verlangen deshalb nun entsprechende schriftliche Vollmachten.“
„Das kann doch wohl nur ein schlechter Traum sein!“, dachte ich perplex. „Sicherlich wache ich gleich auf und meine Sorgen und Probleme haben sich schlagartig in Luft aufgelöst.“
Doch leider geschah nichts dergleichen. Stattdessen musste ich weiterhin versuchen, meine Aufgaben pflichtgemäß zu erfüllen. Das fiel mir im Augenblick sowieso schon sehr schwer, und zu allem Überfluss stellte sich mir Herr Stark auch noch dauernd in den Weg.
„Ich habe gleich einen Termin mit dem Beerdigungsinstitut“, antwortete ich. „Danach werde ich sogleich in das Wohnstift fahren und eine Kopie der Vollmacht anfertigen lassen. Herr Meierle hat mir das bereits angeboten.“
Es war ein kalter, frostiger Tag und nicht ganz einfach in der Stadt einen Parkplatz in der Nähe des Beerdigungsinstituts zu finden. Ich musste erst ein wenig suchen, ehe ich mich in eine kleine Parklücke zwängen konnte.
Das Beerdigungsinstitut fand ich aber schnell, öffnete die Tür und betrat den Laden. „Guten Tag“, grüßte ich. „Ich habe einen Termin mit Frau Reude. Es geht um die Beerdigung von Frau Reber.“
„Einen Augenblick, bitte. Ich werde sie holen.“
Instinktiv stieg in mir eine unangenehme Vorahnung auf, dass gleich etwas nicht nach Plan laufen würde. Ich konnte eigentlich gar nicht sagen, wie ich darauf kam.
Nach kurzer Zeit schritt eine hagere, grauhaarige Frau mit einem aufgesetzten Lächeln den Gang entlang auf mich zu, begrüßte mich säuerlich und bat mich in den Besprechungssaal.
„Wir haben ein Problem“, begann sie. „Eben hat mich Pastor Stark angerufen und mir mitgeteilt, dass er die gesamte Beerdigung organisiert.“
Als hätte mir jemand in die Magenkuhle geboxt, stieg plötzlich eine leichte Übelkeit in mir hoch, und ich wäre am liebsten aus dem Laden gerannt. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Ich kam mir vor wie der Hase in der Fabel vom Hasen und dem Igel. Überall, wo ich hinkam, war Herr Stark in Igelform schon vor mir da.
„Aber… aber meine Tante hat mir doch diese Aufgabe zu Lebzeiten übertragen“, stieß ich hervor. „Sie hat mit mir auch ganz genau abgesprochen, wie sie sich den Ablauf vorstellt, bis ins kleinste Detail! Und ich habe auch eine Vollmacht, die mich dazu berechtigt.“
„Nun, Pastor Stark hat auch gesagt, dass er damit beauftragt worden ist…“, entgegnete sie und mir war sofort klar, wem sie mehr Glauben schenkte. „Wenn Sie wirklich eine Vollmacht haben, dann möchte ich Sie bitten, sie zu besorgen und sie mir hier vorzulegen.“
Das war einfach nicht zu fassen! Überall wurden mir bei meinem Tun Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ohne irgendetwas besprochen zu haben, verließ ich wie ein Sünder erfolglos den Laden und machte mich nun auf den Weg zu dem Wohnstift.
Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre. Alle waren sehr nett und hilfsbereit. Die Empfangsdame führte mich auf meinen Wunsch hin umgehend zu dem Leiter Herrn Meierle. Herr Meierle war ein kleiner, etwas untersetzter Herr mit einer Halbglatze und einer runden Brille auf der Nase. Ich hatte ihn schon mehrmals bei meinen Besuchen von Tante Sophie kennengelernt. Er begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln und bot mir einen Platz an. Wie wohltuend war seine reizende Art nach den ganzen schrecklichen Erlebnissen an diesem Tag.
„Nun, die ganze Angelegenheit kommt mir sehr eigenartig vor“, begann er das Gespräch. „Ich habe sämtliche Unterlagen, die Frau Reber vor ihrem Tod hier im Wohnstift hinterlegt hat, noch einmal durchgesehen. Es ist ganz eindeutig, dass ausschließlich Sie die Vollmacht und eine Zugangsberechtigung zur Wohnung haben. Ich habe mich lieber noch einmal genau rückversichert. Immerhin ist Pastor Stark in der Stadt ein einflussreicher Mann. Aber ich kann definitiv sagen, dass ich kein Freund von ihm bin – ganz im Gegenteil. Mir sind hier aus dem Wohnstift Geschichten bekannt… - aber das darf ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls haben Sie meine volle Unterstützung. Die von ihm in seinem Telefonat heute Vormittag angesprochene Vollmacht hat er bis jetzt auch noch nicht vorbeigebracht. Er ist trotz Ankündigung bisher noch nicht einmal hier erschienen.“
Die ganze Angelegenheit schien immer mysteriöser zu werden.
Er stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und holte von dort einige Unterlagen und überreichte sie mir. „Hier ist die Vollmacht, und ich habe Ihnen schon gleich eine Kopie davon gemacht. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie jetzt gerne in Frau Rebers Wohnung. Sie hat trotz ihrer schweren Krankheit noch veranlasst, dass sie versiegelt wird, das heißt, dass ausschließlich Sie als Bevollmächtigte die Möglichkeit haben, die Wohnung zu betreten. Zum Öffnen der Wohnung muss das Personal vorab die Betretungsbefugnis kontrollieren und schließt dann mit einem speziellen Schlüssel auf.“
Ich wunderte mich. Weshalb hatte Tante Sophie denn solche Vorsichtsmaßnahmen getroffen? Gerne ging ich aber auf Herrn Meierles Angebot ein und ließ mich von ihm in die Wohnung führen. Dort angekommen verabschiedete er sich von mir, und ich war nun allein in der kleinen, nett eingerichteten Wohnung.
Ein seltsamer Augenblick: Eigentlich hätte sie lächelnd auf dem Lehnstuhl sitzen und mir Eis und Himbeeren oder sonst etwas Leckeres anbieten müssen. Schwer vorstellbar, dass sie dort nie wieder sitzen würde. Ich zwang mich, mich darauf zu konzentrieren, was ich erledigen wollte. Gezielt ging ich zu dem kirschbaum-farbigen Biedermeierschrank, schloss die Schranktür auf und entnahm ihm den Aktenordner vom Beerdigungsinstitut. Wie ich wusste, befand sich in ihm eine Liste mit Adressen, an die die Trauerkarten zu versenden waren. Ich legte die Vollmachten auf den Ordner und verließ die Wohnung wieder, um nun nochmals zum Beerdigungsinstitut zu fahren.
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