Danach begannen die schweren Jahre, in denen Sophie das Leiden, die Krämpfe, die anschließenden entsetzlichen Kopfschmerzen, den körperlichen Verfall und die darauffolgende Wesensveränderung miterleben musste ohne wirklich helfen zu können. Keine Nacht konnte sie durchschlafen, aus Angst einen lebensbedrohlichen Anfall zu überhören. Der furchtbare Leidensweg dauerte fünf Jahre bis Konrad völlig abgemagert während eines Anfalls starb.
Die Welt brach endgültig für meine Tante Sophie zusammen, als nur wenige Monate später ihr Vater bei einem Herzanfall verstarb, und auch ihre Mutter ihm nach einem weiteren Jahr nach einer schweren Lungenentzündung folgte. Sie fühlte nur noch eine innere Leere und begann nun plötzlich selbst unerklärliche plötzliche Ohnmachten zu entwickeln. Für eine Lehrerin und Aufsichtsperson war das nicht akzeptabel. Der Direktor der Schule legte ihr daher gegen ihren Willen eine vorzeitige Pensionierung mit nur sechsundfünfzig Jahren nahe. Sie tat sich zwar mit der Entscheidung sehr schwer, unterschrieb dann aber auf Drängen der Schule letztendlich doch.
Daraufhin fiel sie endgültig in ein tiefes Loch, einsam und ihrer Aufgaben enthoben, suchte sie verzweifelt nach einem neuen Sinn des Lebens und in dieser fürchterlichen Situation traf sie ihn: Überwältigt von seinen mitreißenden, rhetorisch perfekt ausgefeilten Reden und seiner anpackenden Art, saß sie in der Kirche und himmelte ihren neuen Gemeindepastor Stark bedingungslos an. Die gesamte Kirchengemeinde hing ehrfürchtig an seinen Lippen, wenn der belesen wirkende Diener Gottes bei seinen Andachten zu ihr sprach. Dieser außergewöhnliche Mann schien ohne langes Überlegen Antworten auf komplizierte Fragen und passende Lösungen für Probleme jeglicher Art parat zu haben. In dieser Zeit beginnen die Kalender-Tagebücher meiner Tante und auch die eigentliche Geschichte.
4.Tante Sophies unerwarteter Hilferuf
Heute, an dem dritten Jahrestag ihres Todes stehe ich noch immer fassungslos vor Tante Sophies Grab, als mir der Ablauf ihrer ungeheuerlichen Geschichte wieder durch den Kopf geht. Scheibchenweise war es mir nach ihrem Tod trotz aller Widerstände gelungen, die traurige Wahrheit über die hinterlistigen Schandtaten ans Licht zu bringen.
Für mich wird Tante Sophie immer als eine kleine, etwas mollige alte Dame mit schlohweißen Haaren und einem unverwechselbaren lauten herzlichen Lachen in Erinnerung bleiben, weltoffen und für Neuerungen noch bis ins hohe Alter begeisterungsfähig.
„Ist ja toll!“, rief sie daraufhin stets verzückt aus, und es war nicht schwierig, sie dann auch zu etwas tollkühnen Taten zu überreden.
Selbst im fortgeschrittenen Alter von neunzig Jahren trug sie sich noch ernsthaft mit dem Gedanken, sich einen Laptop zuzulegen. Sie liebte es einfach, etwas Neues auszuprobieren, Abenteuer zu erleben und bei Reisen in die hintersten Ecken der Welt fremde Kulturen kennenzulernen. Als ihre körperlichen Kräfte später nachließen, litt die ehemalige Sportlerin sehr darunter und versuchte verzweifelt dagegen anzukämpfen. Inzwischen sogar mit zwei Gehstöcken ausgestattet, versuchte sie trotzdem immer noch das Unmögliche möglich zu machen.
Oberflächlich kannte ich Tante Sophie schon seit meinen frühen Kindheitstagen. Jedes Jahr traf ich sie einmal bei der Geburtstagsfeier meiner Oma. Doch als diese verstarb, schlief der Kontakt ein.
Jahre später begegnete ich ihr unvermutet in der Stadt, sprach sie an, und es entwickelte sich, obwohl wir uns wenig kannten, ein angenehmes, fast vertrautes Gespräch. Wir waren uns vom Wesen her sehr ähnlich, und es dauerte nicht lange, bis der Sympathiefunken übersprang.
Das ist nun schon über zwanzig Jahre her, trotzdem kann ich mich heute noch an die lustige Verabschiedung erinnern, als sie mich vorsichtig fragte: „Wir haben uns jetzt so nett unterhalten, doch - wer bist du eigentlich?“
Ich wusste natürlich, dass sie aus ihrem kirchlichen Engagement einen riesigen Bekanntenkreis hatte, und es deshalb nicht immer einfach für sie war, alle Gesichter sofort richtig einzuordnen. Heute noch muss ich über die ehrliche und direkte Frage schmunzeln.
Sie war aber wahrhaftig daran interessiert zu erfahren, mit wem sie sich nun eigentlich überhaupt unterhalten hatte, merkte sich fortan meine Adresse, um sich telefonisch einige Zeit später noch einmal mit mir zum Kaffeetrinken zu verabreden. Von diesem Tag an entwickelte sich eine lockere Beziehung. Wir verabredeten und trafen uns in unregelmäßigen Abständen zu einem netten, kleinen Plauderstündchen.
Die weiteren Jahre nach meinem Treffen mit Tante Sophie in der Stadt sollten die schwersten meines Lebens werden. Nur wenige Monate danach wurde mein Sohn Mario geboren, viel zu früh, gerade mal dreißig Zentimeter lang und neunhundert Gramm schwer. Monatelang kämpfte er im Krankenhaus um sein Leben und auch nach seiner Entlassung erforderte sein schlechter Gesundheitszustand, begleitet von Therapien, unzähligen Arzt- und Krankenhausbesuchen, meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit.
Trotzdem schlief meine neugewonnene Beziehung zu Tante Sophie nicht wieder ein. Ganz im Gegenteil, kinderlieb wie sie war, fieberte sie bei jedem neuen Schicksalsschlag mit uns mit und gewann später mit ihrem freundlichen und fröhlichen Wesen im Handumdrehen Marios Herz.
Als Mario ungefähr acht Jahre alt war, verstarb eine gemeinsame Verwandte von Tante Sophie und mir. Um der damals schon achtzigjährigen Tante Sophie das Tragen des schweren Trauergestecks zu ersparen, nahm ich ihr die Bestellung und Abholung ab und verabredete mich zur Übergabe des Blumengebindes eine halbe Stunde vor dem Trauergottesdienst vor der Kirche.
Pünktlich war ich am vereinbarten Treffpunkt und wartete. In der Regel war sie auch immer zur rechten Zeit da, aber aus irgendeinem Grund verspätete sie sich an diesem Tag. Unruhig schaute ich auf meine Armbanduhr. Die Zeit verstrich und schon bald sollte der Trauergottesdienst beginnen. Als die Glocken zu läuten begannen, versuchte ich, Tante Sophie telefonisch zu erreichen. Erfolglos. Wieso kam sie nicht? Was war nur geschehen? Hin und her gerissen, entschied ich mich dazu, zunächst an der Beerdigung teilzunehmen und anschließend den Grund für Tante Sophies Fernbleiben ausfindig zu machen.
Nachdem die Feierlichkeiten beendet waren, versuchte ich nochmals, Tante Sophie telefonisch zu erreichen. Diesmal meldete sie sich, aber ihre Stimme klang ungewöhnlich mitgenommen.
„Tante Sophie, was ist denn passiert?“, erkundigte ich mich voller Sorge. „Warum bist du denn nicht gekommen?“
„Liebe Julia, es tut mir so leid, dass du vergeblich auf mich gewartet hast“, entschuldigte sie sich umgehend.
Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein musste. Ihre sonstige Fröhlichkeit war wie weggeblasen, stattdessen klang sie traurig und besorgt.
„Als ich heute Morgen zum Friedhof fahren wollte, habe ich beim Abbiegen direkt vor meiner Wohnung einen Fahrradfahrer angefahren. Ihm ist Gott sei Dank nicht viel passiert. Trotzdem ist er zur Überwachung zunächst ins Krankenhaus eingeliefert worden.“
Jetzt klang ihre Stimme nahezu verzweifelt. Sie, die seit Jahren unentwegt darum bemüht war, ihre Mitmenschen tatkräftig zu unterstützen und ihnen stets alle in ihrer Macht stehende Hilfe zur Verfügung stellte, hatte nun selbst einem Menschen körperlichen Schaden zugefügt. Für sie musste das sicherlich ein persönliches Desaster sein.
„Bist du verletzt?“, erkundigte ich mich voller Mitgefühl. „Kann ich nicht irgendetwas für dich tun?“
„Nein, nein. Es ist alles in Ordnung“, behauptete sie, aber der Klang ihrer Stimme vermittelte einen genau gegenteiligen Eindruck. „Mach dir keine Sorgen und fahr nur zu deinem Mario. Ich komme schon allein zurecht.“
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