»Ich wünsche euch auch eine gute Nacht und tausend schöne Träume«, ergänzt ihr Vater. »Lara, Lanzelot? Wollt ihr laufen oder reiten?«
»Reiten«, ruft Lanzelot begeistert und springt dem Vater direkt auf den Rücken. Lara klettert hinterher und dann macht Vater Maring Geräusche wie ein Pferd und galoppiert Richtung Ausgang. Plötzlich bleibt er stehen, dreht sich noch einmal um und schaut Paolo an.
»Paolo, du bist der Älteste und trägst die Verantwortung. Du weißt ja Bescheid, was wir abgemacht haben. Das erste Türchen wird erst morgen früh aufgemacht. Keine Aktionen um Mitternacht wie letztes Jahr. Verstanden?«
»Ja, Papa«, antworten Paolo und Lara gleichzeitig.
»Versprecht es mir!«
»Wir haben es dir doch schon hundert Mal versprochen.«
»Dann versprecht ihr es mir eben zum hundertundeinsten Mal!«
Paolo und Lara verdrehen die Augen, tun ihrem Vater aber den Gefallen. Die Kinder legen ihre Hände auf die Brust und schwören es.
»Und noch etwas. Richtet den Pauwdies bitte aus, dass sie dieses Jahr meine Schuhe, den Rasierapparat und alle andere Sachen in Ruhe lassen sollen.«
»Klar Papa, wir richten es den Pauwdies aus.«
»Und jetzt schwört ihr mir noch etwas«, fährt er fort und macht eine rhetorische Pause. Paolo sieht seinen Vater fragend an. Was kommt jetzt? Herr Maring hat einen wirklich ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Ihr haut nicht wieder von Zuhause ab. Eure Mutter hat sich letztes Jahr unendlich viele Sorgen gemacht!«
»Wir sind nicht von Zuhause abgehauen. Das war alles ein unglücklicher Zufall und daran Schuld hatte am Ende dieser Kraftgegenstand«, versucht, Paolo zu erklären.
»Ja ja, das Zepter. Gut, dass ich es im Tresor eingeschlossen habe. Dann kann dieses Jahr ja nichts Gefährliches passieren. Okay, dann versprecht mir eben, dass ihr auf der Erde bleibt.«
»Aber Papa! Wir freuen uns doch schon so lange darauf, unsere Freunde zu treffen«, bettelt nun Lara, so lieb sie kann und versucht ihren Vater umzustimmen.
»Das verstehe ich natürlich. Trotzdem geht ihr nicht ohne unsere Erlaubnis. Übrigens finde ich die Idee von Mama gar nicht so verkehrt. Vielleicht besuchen wir ja auch zusammen die Stadt der Pauwdies.«
Paolo und Lara schauen sich entsetzt an.
»So und jetzt schwört es!«
»Wir versprechen es«, sagen Paolo und Lara zeitgleich und legen eine Hand zum Indianerehrenwort auf die Brust. Was ihr Vater nicht sieht, ist, wie die beiden die Finger ihrer anderen Hand kreuzen. Das können sie ihrem Vater wirklich nicht versprechen, schließlich ist Paolo der Hüter eines Weltentores. Doch für den Moment scheint ihr Vater beruhigt zu sein.
»Soll ich den Kater hierlassen?«, fragt er, kommt nochmal näher und gibt Paolo einen Kuss auf die Stirn.
»Ne, der schnarcht«, lacht Paolo.
»Er kann bei mir schlafen«, schlägt Lara vor.
»Jojo, du hast sie gehört. Lara gewährt dir Obdach.«
»Bis um Mitternacht«, flüstert Paolo und nickt Lara zu. Sie versteht sein Augenzwinkern sofort und grinst.
Es ist kurz nach Mitternacht, als leise Schritte über den eiskalten Küchenfußboden tapsen. Jetzt ist es endlich wieder soweit und Paolo wird gleich das erste Türchen des magischen Adventskalenders öffnen.
Paolo blickt den Kalender an. Er hat kein bisschen von seiner Schönheit eingebüßt. Die goldenen Farben, Planeten und Linien, die alles perfekt miteinander verbinden, sehen einfach toll aus. Alle Vier schauen Paolos Kraftgegenstand voller Faszination an.
Es ist ziemlich genau ein Jahr her, als die vier durch den magischen Adventskalender gesprungen sind und auf Ganesha das aufregendste Abenteuer ihres Lebens erlebt haben. Bis heute wissen nur wenige Menschen von der Existenz des magischen Adventskalenders. Außer den Familien Maring und Rensing weiß keiner, dass es Pauwdies, also kleine Kartoffelwesen, gibt. Leider haben die hohlen Kartoffelköpfe, wie sie Lanzelot immer noch nennt, nicht verstanden, dass die Menschen mit einem einzelnen Socken nichts anzufangen wissen. So gibt es in allen Haushalten der Welt immer noch diesen mysteriösen verschwundenen Socken. Und das nur, weil die Socken den Pauwdies als Schlafsäcke dienen.
Bis heute wissen auch nur wenige von der Existenz der Kraftgegenstände, wie zum Beispiel der Luminova-Aufspürbrille, welche Paolo den Weg weist, wenn er sich auf ein Ziel konzentriert. Oder dem Blitzstein, der immer wieder zu seinem Besitzer zurückkehrt, nachdem man ihn geworfen hat. Und natürlich den Übersetzerohrringen, die alle Sprachen des Universums übersetzen können und mit denen Lara auch in der Lage ist, sehr schnell Freundschaften zu schließen. Aber es gibt auch gefährliche Kraftgegenstände, die ihren eigenen Willen haben, wie das Diamantzepter, welches aus diesem Grund sicher verstaut im Tresor ihres Vaters eingeschlossen ist. Und niemand, außer den vier Abenteurern, weiß, dass es Krafttränke gibt. Also ist auch der Wachmix geheim, mit dem man nächtelang durchhalten kann, ohne müde zu werden. Und auch das Unsichtbarkeitswasser, welches einen tatsächlich unsichtbar macht. Oder der Beinmachtrank, mit dem sie Thomas und Lanzelot zum Leben erweckt haben. Das alles ist ein gut behütetes Geheimnis.
Und wenn es nach den Regeln der Hüter der Weltentore geht, dann soll das auch so bleiben. Was wäre sonst auf der Welt los, wenn alle wüssten, dass noch viele andere Planeten existieren, auf denen es andere Lebewesen gibt und dass man durch sogenannte Weltentore dorthin gelangen kann. Wie der Planet Ganesha auf dem kartoffelartige Pauwdies, käferartige Grocks, der haarige Kasimir und viele, viele andere Wesen mit sechs Fingern und sechs Zehen friedlich zusammenleben.
Für Lara und Paolo hat sich seit dem Abenteuer auf Ganesha einiges verändert, aber das meiste ist gleich geblieben. Sie gehen natürlich immer noch zur Schule oder spielen mit ihren Freunden und sind im Grunde zwei ganz normale Kinder. Selbstverständlich streiten sie sich auch manchmal. Aber nur wenn es sein muss. Lara ist mittlerweile zehn und Paolo elf Jahre alt und beide haben das Erbe ihrer Oma Luise angetreten, um das Weltentor des magischen Adventskalenders zu beschützen. Paolo ist ja schließlich ein Hüter und Lara ist ein ganz besonders Mädchen, denn sie ist als einzige in der Lage, mehr als drei Kraftgegenstände gleichzeitig zu tragen.
»Mach schon auf!«, fleht Lara ihren Bruder ungeduldig an. Sie kann es kaum erwarten, Kasimir endlich wieder zu sehen und Neuigkeiten aus der Stadt der Pauwdies zu erfahren.
»Tu das, was Lara dir sagt!«, fügt Lanzelot hinzu. Thomas mischt sich nicht ein, sondern schaut nur mit seinen süßen Knopfaugen erwartungsvoll auf den magischen Adventskalender.
Paolo freut sich schon sehr lange auf diesen Moment und obwohl er am liebsten sofort das Türchen aufreißen würde, klopft er dennoch sachte an. Paolo kann sich immer noch lebhaft daran erinnern, wie das vor einem Jahr war. Kasimir hätte ihm damals fast den ganzen Finger abgebissen.
»Kasimir, bist du Zuhause?«, fragt Paolo leise, als sein Freund nicht auf das Klopfen reagiert.
Kasimir antwortet nicht.
»Ist er nicht da?«, fragt Lara überrascht.
»Ich weiß nicht. Er macht nicht auf.«
Paolo legt sein Ohr an den Adventskalender, um zu lauschen. Er kann zwar nichts hören, aber dafür bemerkt er, dass der Kalender ziemlich kalt ist. Er reibt sich sein Ohr, um es wieder aufzuwärmen.
»Die Oberfläche ist eiskalt.«
»Und was ist mit Kasimir?«
»Hinter dem ersten Türchen ist es mucksmäuschenstill. Was sollen wir denn jetzt machen?«
»Wir machen es einfach auf, was denn sonst«, schlägt Lanzelot vor. Paolo ist selten der gleichen Meinung wie der Hase, aber dieses Mal hat Lanzelot vermutlich recht. Also versucht er vorsichtig, das erste Türchen zu öffnen. Paolo muss jedoch feststellen, dass es sich keinen Millimeter bewegen lässt. Auch dann nicht, als er kräftiger daran zieht.
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