»Nicht! Wir haben doch keine Ahnung, was das ist! Vielleicht hat sie dieser seltsame Mann liegen gelassen.«
»Das wäre ein Grund mehr, sie genauer unter die Lupe zu nehmen.«
»Ich mach das«, sagt Paolo mutig und im nächsten Moment berührt er mit einem Finger die Schneekugel.
»Ich glaube, sie ist aus Eis und nicht aus Glas, weil sie ziemlich kalt ist.«
Paolo hebt die Kugel jetzt hoch und die beiden betrachten sie aus der Nähe.
»Glaubst du wirklich, dass der Mann sie verloren hat?«, fragt Lara.
»Oder absichtlich hier abgelegt?«, spekuliert Paolo.
»Warum sollte er so etwas Schönes einfach liegen lassen?«
»Keine Ahnung.«
Sie blicken auf die kleine weiße Welt aus Schnee und Eis, die sich im Innern der Kugel befindet. Sie sehen winzige Schneeflocken die auf Berge, Wälder und Eiswüsten herabrieseln. Paolo sieht aber auch zugefrorene Seen, Hügel und dahinter eine Stadt. Hohe Mauern, Häuser und auf einer Anhöhe ein aufragender, weißer Turm. Alle Gebäude sehen so aus, als wären sie aus Eis und Schnee erbaut und alles sieht so echt aus. Es gibt so viele Einzelheiten zu entdecken. Noch nie hat Paolo eine so tolle Schneekugel gesehen. Die Motive der Schneekugeln, die man vor allem in der Adventszeit in den Geschäften kaufen kann, sind viel einfacher und bei weitem nicht so schön.
»Da gibt es ja noch mehr zu sehen«, sagt Paolo erstaunt und schaut noch genauer hin. Er reibt sich über die Augen und dann sieht er die Eisstadt noch einmal viel näher, so als wäre die eisige Oberfläche der Kugel ein Vergrößerungsglas.
Paolo ist sprachlos. Er kann jetzt Straßen erkennen und viele Leute in Pelzmänteln und Umhängen, die dort unten entlanggehen, aber auch andere Wesen. Eisbären, die durch die Gassen bummeln, Elche, die weiße Kutschen ziehen und Schneeeulen, die so groß sind wie Pferde und über die Dächer fliegen. Er sieht auch ein riesiges Gebäude, das wie eine Fußballarena aussieht.
Plötzlich schweift sein Blick zu einer aufgewirbelten Schneewolke vor dem Stadttor. Ein großer Eisbär rennt auf die Stadt zu. Er ist die Ursache für die Schneewolke, da der Schnee durch sein schnelles Tempo hinter seinen Tatzen in die Luft fliegt. Auf dem Rücken des Bären reitet ein Mann. Plötzlich stoppen die Beiden direkt vor den Stadtmauern und dann dreht der Mann seinen Kopf und blickt nach oben. Er schaut direkt in Paolos Richtung, so als wüsste er, dass Paolo auf die Stadt hinunterblickt.
Paolo bekommt eine Gänsehaut. Das ist der Mann aus dem Supermarkt! Der Mantel, die Haare, aber vor allem diese eisblauen, durchdringenden Augen - alles passt! Und wieder hat er so ein seltsames Gefühl, als wäre der Mann nur auf der Erde gewesen, um Paolo zu finden.
Und das ist der Moment, in dem Paolo die Schneekugel vor Schreck fallen lässt. Glücklicherweise landet sie weich im Schnee und geht durch den Aufprall nicht kaputt. Paolo schließt seine Augen und atmet erst einmal tief durch. Seine Fantasie geht mit ihm durch. Nichts weiter. Es ist nur seine eigene Fantasie.
»Was ist mit dir los?«, fragt Lara, aber Paolo ist im Moment nicht imstande zu antworten. Was soll er denn sagen? Dass er den Mann aus dem Supermarkt auf einem Eisbären in der Schneekugel gesehen hat? Das hört sich doch verrückt an. Andererseits könnte es sich bei der Kugel auch um einen Kraftgegenstand aus einer anderen Welt handeln.
»Da war ein Eisbär, dieser Mann, dem wir gefolgt sind und viele Leute in einer weißen Stadt aus Eis. Da drin«, flüstert Paolo aufgeregt, zeigt auf die Schneekugel und schaut zu Lara, die neben ihm steht.
»Was für eine Stadt?«
»Berühr die Kugel, dann siehst du es auch«, fordert er sie auf.
»Paolo, erzähl doch keinen Quatsch!«, rügt ihn Lara genervt.
»Nein, ganz ehrlich.«
Lara stemmt ihre Hände in die Hüften.
»Überzeuge dich bitte selbst davon, wenn du mir schon nicht glaubst.«
Im nächsten Augenblick hebt Lara die Schneekugel auf und streicht über die glatte, eisige Oberfläche.
»Wow«, haucht sie ehrfürchtig. »Wie nah man das alles plötzlich sieht! Oh, die Eisbären sehen ja mal richtig gefährlich aus.«
»Sind da etwa mehrere Eisbären?«
»Ja!«
»Kannst du auch den Mann sehen?«
Lara strengt ihre Augen an.
»Nein. Vielleicht ist er ja schon in die Stadt geritten.«
»Das bedeutet, dass du mir glaubst?«
»Man glaubt das, was man sieht. Oder sieht man das, an was man glaubt? Egal, wir haben letztes Jahr so verrückte Sachen erlebt, da kommt es auf eine mehr oder weniger nicht an. Ob diese kleine Schneekugel vielleicht ein Kraftgegenstand ist?«
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
»Ist diese Welt jetzt da drin oder schauen wir nur durch eine Art Fenster auf diese Stadt und ihre Leute?«
»Interessante Frage«, grübelt Paolo. »Fakt ist, dass der Mann, den wir verfolgt haben, dort drin ist.«
»Was wollte er hier? Also bei uns auf der Erde?«
»Keine Ahnung, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Schneekugel wirklich ein Kraftgegenstand ist. Vermutlich hat ihr Auftauchen sogar etwas mit der Nachricht von Kasimir zu tun.«
»Also, was schlägst du vor? Was sollen wir machen?«
»Wir nehmen sie erst einmal mit«, meint Paolo.
»Gute Idee, vielleicht finde ich in Oma Luises Tagebuch etwas darüber heraus. Unsere Oma hat sehr viele Kraftgegenstände gekannt. Wenn wir Glück haben, dann vielleicht auch diese magische Schneekugel.«
Lara steckt die eisige Kugel in ihre Jackentasche und dann gehen sie zurück in den Supermarkt.
»Könnt ihr mir mal sagen, wo ihr gewesen seid? Ich habe mir Sorgen gemacht! Ihr könnt doch nicht einfach verschwinden, ohne etwas zu sagen!«, schimpft ihre Mutter wütend.
Die Geschwister schauen sich betroffen an und wissen einen Moment lang nicht, was sie sagen sollen.
»Entschuldigung«, murmeln sie schließlich leise und mit hängenden Köpfen. Ihre Mutter scheint immer noch ziemlich aufgewühlt zu sein, doch Lara und Paolo haben Glück, denn sie lässt die Sache erst einmal auf sich beruhen.
Nach den Einkäufen sitzen Paolo und Lara auf dem Bett in Laras Kinderzimmer, schauen die kleine Schneekugel an und denken angestrengt nach.
»Ich kann mir das mit den verschwundenen Sachen in unserem Haus nicht erklären. Vielleicht waren es doch die Pauwdies?«, spekuliert Paolo. »Und die Geschichte im Supermarkt ist auch seltsam. Der Mann mit dem Eisbär, der in der Kugel verschwunden ist, bereitet mir Kopfzerbrechen. Das ist alles sehr auffällig, aber ich erkenne noch keinen Zusammenhang«, überlegt er und blickt auf die Schneekugel.
»Sie schmilzt nicht. Wenn sie aus normalem Eis wäre, dann würde sie doch auftauen«, meint Lanzelot.
»Das ist auch ein Indiz dafür, dass es sich womöglich um einen Kraftgegenstand handelt.«
»Kann gut sein«, sagt Lara und denkt nach, wobei sich wieder tiefe Runzeln auf ihrer Stirn abzeichnen. »Die Pauwdies sind unsere Freunde. Sie hätten uns gefragt oder zumindest Hallo gesagt. Und was sollten sie mit dem Werkzeug und den Messern und Gabeln anfangen?«
»Vergiss nicht den Dosenöffner! Vielleicht essen die Kartoffeln jetzt auch Katzenfutter«, vermutet Lanzelot trocken und bringt alle zum Schmunzeln.
»Der Spiegel im Badezimmer ist zugefroren. Das dürfen wir nicht vergessen. Selbst wenn die Pauwdies das alles mitgenommen haben sollten, dann hätten sie es nicht nach Ganesha bringen können«, fasst Lara die Fakten zusammen. »Der Mann aus dem Supermarkt und die Schneekugel, scheinen mir aber noch schwierigere Rätsel zu sein. Vielleicht sollten wir erst einmal das Verschwinden der Gegenstände in unserem Haus aufklären.« Paolo stimmt zu und schaut aus dem Fenster. Es gibt so viele Rätsel zu lösen. Hätte er jetzt doch nur seine Aufspürbrille.
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