Auf den ersten Blick hatte sich der Ort kaum verändert. Er bestand im Wesentlichen aus einer Hauptstraße, die gesäumt war von Bars, Cafés, No-Name-Kleiderläden und Restaurants mit Pizza und Moules et frites auf der Karte. Er fragte sich, ob die drei oder vier schäbigen Clubs ein wenig außerhalb des Dorfes noch existierten. Im Hinterhof einer dieser Läden hatte er zwischen einem Altglascontainer und übereinandergestapelten leeren Bierfässern seine Unschuld verloren. Die Erinnerung daran war allerdings mehr als nur ein wenig vernebelt. Immerhin konnte er mit Gewissheit sagen, dass er mit einer Frau zusammen gewesen war. Oder zumindest redete er sich das ein. Allerdings fragte er sich noch heute, wie er im Vollsuff überhaupt einen hochgekriegt hatte.
Ob sie ihm nun auf den Fersen waren oder nicht, in dem Gewusel von Touristen war er so gut wie unsichtbar – und deshalb fühlte er sich erst einmal sicher. Nach den letzten Tagen hatte er eine kleine Erholung dringend nötig.
Er bog in eine Nebenstraße ein, in der sich rund ein Dutzend Campingplätze aneinanderreihten. Dabei war er selber überrascht, wie gut er sich noch auskannte. Holsbein wollte sich ein kleines Mobilhome mieten – in der Hochsaison keine einfache Sache. Während er langsam die Straße entlangcruiste, sah er vor den Rezeptionen jedenfalls nur »Complet«-Schilder. Beim zweitletzten Campingplatz stand nichts dergleichen, also parkte er sein Auto am Straßenrand und versuchte sein Glück. Doch die Rezeptionistin, eine ausgemergelte Hippiebraut mit strähnigen rot-blonden Haaren, winkte schon ab, bevor er auch nur einen Ton sagen konnte. »Tut mir leid, wir sind komplett ausgebucht«, nuschelte sie.
»Sie brechen mir das Herz, ich suche schon den ganzen Tag nach einer Unterkunft«, versuchte Holsbein die Mitleidsmasche. »Ich wäre auch mit einer ganz einfachen Bleibe zufrieden.« Jetzt fehlte nur noch eine Schwangere auf einem Esel, dann wäre das hier die Weihnachtsgeschichte, dachte er und grinste in sich hinein.
»Kommen Sie im September wieder«, zeigte sich die Rothaarige unbeeindruckt.
Holsbein machte kehrt und ging zum Auto zurück. Er stieg ein und wollte gerade losfahren, als ihm die Hippiebraut winkend hinterhergerannt kam. Sie schnaufte wie nach einem Tausend-Meter-Lauf.
»Mir ist gerade eingefallen: Eine Möglichkeit gäbe es da schon noch.«
»Und die wäre?«
»Wir haben im hinteren Bereich des Platzes noch ein altes Mobilhome. Das nutzen wir derzeit als Lagerraum, na ja, eigentlich ist es vollgestellt mit Gerümpel und Abfall. Aber wenn Sie das Zeug ein bisschen zur Seite räumen, kriegen Sie bestimmt eines der Schlafzimmer und die Küche frei. Die Toilette funktioniert allerdings nicht, da müssten Sie die Gemeinschaftsanlage benützen.« Sie deutete mit ihrem knochigen Zeigefinger auf ein rostrotes Gebäude. »Ach noch etwas: Haben Sie eine Allergie gegen Schimmel?«
Holsbein schüttelte den Kopf. »Ich nehme das Schmuckstück.«
* * * * *
Aline fand, dass sie mit ihren kakifarbenen Shorts und dem weißen T-Shirt mit Palmenmotiv aussah wie das Klischee einer Touristin. Sie rückte das Baseballcap zurecht und fädelte ihre Zehen in die Flipflops ein. Den Kram hatte sie für ein paar Euro in einem Ramschladen an der Zufahrtsstraße gekauft. Es war gar nicht mal so einfach gewesen, ein hochgeschlossenes T-Shirt zu finden, das ihre Tätowierungen verdeckte. Jetzt musste noch eine richtig uncoole Sonnenbrille her, dann war sie bereit für die Observierung.
Auch wenn sie sich in ihrem Outfit nicht wirklich wohlfühlte, war Aline mit sich und der Welt im Reinen. Der protzige Luxus des Fünfsternehotels amüsierte sie. Und die Bar in der Lobby war wirklich außerordentlich gut bestückt. Sie bestellte einen Gin Tonic mit Gurke und warnte den Barkeeper, ihr bloß nicht den billigen Fusel anzudrehen. Der junge Mann stellte ihr ein Tonicwater aus irgendeiner kleinen südfranzösischen Getränkeabfüllerei hin und daneben eine Flasche Plymouth Navy Strenght. Aline nickte mit Kennermiene, obwohl sie keine Ahnung hatte, was ihr da serviert wurde. Sie wartete, bis das Eis den Drink auf Wohlfühltemperatur runtergekühlt hatte und prostete dann in die Richtung, in der sie die Schweiz vermutete. »Zum Wohl, Herr Camenzind, und freuen Sie sich auf die Spesenrechnung.«
Eine Viertelstunde später kaufte Aline sich im nächstbesten Shop eine riesige Sonnenbrille und suchte dann eine Bar mit gutem Ausblick auf die Straße. »Le Poseidon« hieß das Lokal ihrer Wahl. Wenn Holsbein tatsächlich in dem Kaff war, dann würde er früher oder später hier vorbeikommen, da war sie sich sicher. Sie orderte ein Heineken, schaltete den Laptop ein und funkte mit ihrem Smartphone Holsbeins Handy an. Doch es kam kein Signal zurück. Vor zwei Stunden hatte sie das letzte Mal ein Lebenszeichen erhalten, seither herrschte Totenstille. Theoretisch konnte er schon über alle Berge sein, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er sich in Marseillan-Plage aufhielt. Holsbein war ein Gewohnheitstier, und hier war er bereits einmal als junger Mann gewesen, das wusste sie. Dass die letzten paar Ortungen alle aus dem Bereich der Campingplätze im Westen des Städtchens gekommen waren, stützte ihre Vermutung.
Aline bedauerte, dass es ihr nicht möglich war, Holsbein ganz einfach mittels GPS-Tracking auf den Meter genau zu lokalisieren. Die Treffsicherheit der Ortung hing vielmehr vom Standort der Mobilfunkantennen ab. Peilte jemand mit dem passenden Zugangscode das Handy an, sandte dieses sofort einen Impuls aus, um die Antennen im Empfangsbereich zu registrieren und schickte diese Daten dann als Code verschlüsselt in einer SMS zurück. Eine Software auf dem Laptop entschlüsselte die Zahlen- und Buchstabenreihe und lieferte die errechnete Position auf einer Karte. Bei leistungsstarken, weit auseinanderliegenden Antennen in ländlichen Regionen konnte die Position in einem Suchradius von bis zu fünf Kilometern liegen. In Städten hingegen, wo es mehr kleine Anlagen mit geringer Leistung gab, war im Idealfall eine Ortung mit einer Genauigkeit von zweihundert bis dreihundert Metern möglich.
Das Spezielle am System war, dass es nicht an eine Handynummer oder die SIM-Karte gebunden war, sondern über einen Trojaner funktionierte, der auf dem Smartphone der zu überwachenden Person installiert werden musste. Das Ganze lief über das alte, aber zuverlässige GSM-Netz und funktionierte sogar, wenn der Handybesitzer die mobile Datennutzung ausgeschaltet hatte, da der Trojaner diese Sperre überlistete. Die Malware war schon ziemlich in die Jahre gekommen und lieferte deshalb auf Smartphones der neusten Generation nur unzuverlässige Daten. In Holsbeins Fall war das kein Problem, denn der trug noch immer sein uraltes Galaxy mit sich herum. Um für die Zukunft gerüstet zu sein, hätte Aline dennoch gerne eine neuere Version des Trojaners zur Verfügung gehabt. Aber ihr Studienkollege, der das Programm vor einigen Jahren für seine Masterarbeit entwickelt hatte, war irgendwann wie vom Erdboden verschwunden gewesen. Einmal noch hatte er sie vor der Redaktion abgefangen und wirres Zeug über einen Van mit abgedunkelten Scheiben vor seiner Haustüre gelabert. Und von Männern des militärischen Geheimdienstes in schwarzen Anzügen, die im Supermarkt oder im Bus plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten und ihn verfolgten. Sie hatte ihm kein Wort geglaubt und den synthetischen Drogenscheiß, den er sich die ganze Zeit über reinpfiff, für den Verfolgungswahn verantwortlich gemacht.
* * * * *
Holsbein hatte gar nicht gemerkt, dass sein Handyakku leer war. Wahrscheinlich mal wieder eine Spontanentladung, dachte er. Irgendwann würde er sich ein neues Smartphone kaufen müssen. Aber das war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Der Schweizer Stecker des Ladegeräts wollte nicht so recht in die Euro-Steckdose passen, aber mit ein wenig Gewalt klappte es schließlich.
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