Camenzind staunte nicht schlecht, als der bärtige Kommissar mit seinen lachsroten Hosen, dem bunt karierten Hemd und den zwei kampflustig dreinschauenden Muskelprotzen im Schlepptau ohne anzuklopfen sein Büro betrat und sich vor dem Schreibtisch aufbaute. »Das ist Hausfriedensbruch, meine Herren«, sagte er und versuchte erfolglos seine Verunsicherung zu überspielen.
Widmer schlug mit der Faust auf die Tischplatte. »So, mein Freund, und jetzt erzählen Sie mir, weshalb mich vorhin eine Ihrer Journalistinnen angerufen und blöde Fragen zu Holsbeins Aufenthaltsort gestellt hat. Er soll bei Belfort gesehen worden sein.«
Camenzind hatte seine Fassung wiedererlangt. Er steckte sich eine Marlboro zwischen die Lippen, fand aber keine Streichhölzer. »Ich weiß von gar nichts«, sagte er. Inzwischen hatte er unter einem Stapel nachlässig zusammengefalteter Zeitungen ein Feuerzeug entdeckt. Er lehnte sich zurück und zündete die Zigarette an. »Wie hieß denn die Dame?«
»Sie hat sich als ›Aeschlimann‹ vorgestellt«, knurrte Widmer.
»Na dann kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, bei uns arbeitet niemand mit diesem Namen. Schauen Sie im Impressum nach.« Camenzind legte dem Kommissar eine Ausgabe der »Nordost-Nachrichten« hin. »Seite drei, unten links.«
Widmer ging die Namen durch. Er fand niemanden, der auch nur annähernd so hieß. »Dann war es diese Journalistin, die den Namen des Täters herausbekommen hat. Holen Sie sie rein, ich will mit ihr reden.«
»Geht nicht«, sagte Camenzind. »Ich habe sie suspendiert, weil sie nicht damit rausrücken wollte, woher sie all die Informationen hatte.«
»Wen haben Sie denn dann auf den Fall angesetzt, Camenzind?«
»Derzeit niemanden. Wenn sich irgendein freier Schreiber der Sache annimmt und uns den Text dann anbietet, kann ich das aber auch nicht verhindern.« Er fischte einen Kugelschreiber aus der bunt bemalten Büchse, die ihm seine Nichte zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. »Wenn wir gerade so schön am Plaudern sind: Was weiß die Polizei über dem Aufenthaltsort des Feuerteufels?«
»Wir sind an ihm dran«, brummte Widmer. »Aus ermittlungstaktischen Gründen können wir aber keine Details verraten.«
* * * * *
Die Sache mit dem Bad im Mittelmeer konnte Holsbein erst einmal vergessen. Blöderweise hatte er sich für seine Flucht in den Süden ausgerechnet die Hauptreisezeit in den Schulferien ausgesucht – und war mitten in den Strom unzähliger Touristen hineingeraten. Vor Vienne staute sich der Verkehr auf über fünfundzwanzig Kilometern, und später in Valence nochmals auf etwa zwanzig. Deshalb waren die ganz Schlauen von der Autobahn abgefahren und verstopften damit auch noch die Überlandstraßen. Holsbein hatte es im Schneckentempo bis kurz nach Montélimar geschafft, wo er seinen Renault entnervt auf einem Rastplatz parkte. Sein Nachtessen bestand aus einem durchgeweichten Industrie-Sandwich und einer Packung Mini-Salami.
Mittlerweile hatte sich auch wieder seine Paranoia gemeldet, und so entschied er, sich andere Nummernschilder zu besorgen. Seine alten Schilder lässig in einem Plastiksack schwingend, schlenderte er auf dem Lastwagenparkplatz herum auf der Suche nach einem Mietwohnmobil aus der Schweiz. Es dauerte nicht lange, da entdeckte er ein wahres Prachtexemplar, eingeklemmt zwischen zwei Vierzigtönnern aus Polen. »Wunderlich Caravan und Wohnwagen Vermietung, Altbrunn« stand in großen Lettern auf der Rückseite der Kiste. Holsbein war zufrieden. Der kannte sein Kennzeichen bestimmt nicht und der Wechsel würde erst auffallen, wenn er das Gefährt wieder dem Vermieter zurückbrachte.
Holsbein klaubte sein Handy aus der Hosentasche. 22.35 Uhr. Dieser Teil des Parkplatzes war schlecht beleuchtet. Die Familie, oder wer auch immer mit diesem Wohnmobil in die Ferien fuhr, befand sich wahrscheinlich im Innern des Fahrzeugs, denn zwischen den zugezogenen Vorhängen war Licht zu sehen. Das würde ein Kinderspiel werden, machte sich Holsbein Mut. Er kauerte sich hin und inspizierte das vordere Schild. Es hatte einen einfachen Click-Verschluss. Nach nicht einmal zwanzig Sekunden hatte er das Kennzeichen ausgetauscht. Das hintere Nummernschild klemmte ein wenig, doch auch da war der Wechsel schnell erledigt. Holsbein hatte sich gerade aufgerichtet und das Stück Blech im Plastiksack verschwinden lassen, als ihn jemand mit der Taschenlampe blendete.
»Was machst du dich hier an meinem Auto zu schaffen, du Penner?«, fragte eine aufgeregte männliche Stimme auf Schweizerdeutsch.
Holsbein dachte kurz an Flucht, beschloss dann aber, den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen und so zu tun, als würde er seinen Schwanz suchen. Mit der anderen Hand stützte er sich am Wohnmobil ab.
»Hubert, was ist da draußen los?«, tönte eine weibliche Stimme aus dem Wagen.
»Da will so ein Besoffener an unser Wohnmobil pissen.«
»Siehst du, ich habe doch gesagt, wir sollten besser auf einem Campingplatz übernachten«, schimpfte die Frau. »Aber nein, das war dir ja zu teuer.«
»Und ich habe dir schon hundertmal erklärt, dass um diese Jahreszeit entlang der Autobahn kein einziger Platz mehr frei ist«, rief Hubert über die Schulter. Der Strahl der Taschenlampe war inzwischen auf Holsbeins Schwanz gerichtet. Der stopfte sein Ding wieder in die Hose, nuschelte ein paar französische Wortfetzen und wankte langsam davon.
»Aber du hättest reservieren können«, keifte die Frau weiter.
»Theoretisch wäre es aber auch möglich gewesen, dass es weniger Verkehr hat und wir auf dem Weg nicht zu übernachten brauchen«, sagte Hubert.
»Hallo? Wir haben Ferien! Da ist ein Stau ja wohl keine Überraschung.«
Hubert ging ein paar Schritte hinter Holsbein her, um sich zu vergewissern, dass der auch wirklich das Weite suchte. Dann schlurfte er in seinen Badelatschen zurück zum Wohnmobil, stieg die zwei Stufen hinauf und schlug die Tür hinter sich zu.
Aline holte sich noch ein Croissant vom Buffet. Dazu ein paar Scheiben Schinken, etwas Camembert, ein Glas ganz bestimmt nicht frisch gepressten Orangensaft und ein Danone-Joghurt. Kaum hatte sie sich gesetzt, stand der für diesen Bereich zuständige Kellner an ihrem Tisch und schenkte Kaffee nach. Der Kerl ging ihr langsam auf die Nerven. Eigentlich hatte sie nichts dagegen, wenn ihr die Typen bewundernd nachschauten. Sofern sie gut drauf war, natürlich. Nur sollte das mit ein bisschen Stil und einer gewissen Zurückhaltung geschehen. Dieser Kellner aber sabberte ihr fast in den Ausschnitt.
Zurück im Hotelzimmer warf sie sich aufs Bett, fingerte an ihrem Handy herum und tippte dann eine Zahlenreihe in den Laptop. »Schon wach? Wirst ja noch zum Frühaufsteher«, murmelte sie und zoomte auf der Karte näher ran. »Du armer Kerl, musstest in deiner alten zugigen Karre auf einer Raststätte schlafen.« Redete sie da gerade mit dem Computer?
Aline öffnete die Internetseite der »Nordost-Nachrichten« und betrachtete ihr Werk. »Feuerteufel auf dem Weg nach Südfrankreich«, stand da. Für einmal hatten die Online-Aasgeier sogar ihren Titel beibehalten. Auch das Bild war eingefügt. Gemäß Legende war auf der Aufnahme Richard Holsbein zu sehen, wie er in einem Shop auf einer Raststätte südlich von Vienne im Departement Isère eine Flasche Cola kauft. Das Foto, ganz offensichtlich die Aufnahme einer Überwachungskamera, war unscharf und verzerrt, sodass der Kopf bei genauerem Betrachten nicht wirklich zum Rest des Körpers zu passen schien. Außerdem waren die Augen mit einem dicken schwarzen Balken abgedeckt. Eigentlich konnte das eine beliebige männliche Person an einem beliebigen Ort sein.
»Die drucken wirklich alles ab«, sagte Aline zu sich selber und zuckte mit den Schultern.
Für das Bild hatte sie aus einer rund zwei Jahre alten, von der Perspektive her einigermaßen passenden Aufnahme Holsbeins mit Photoshop den Kopf ausgeschnitten, mit einem Screenshot einer Überwachungskamera irgendeines Tankstellenshops aus dem Internet zusammengefügt und das Ganze dann etwas bearbeitet: Kontrast runter, Helligkeit rauf, ein wenig an der Tonwertkorrektur und der Farbsättigung rumgeschraubt, zum Schluss noch ein kräftiges Bildrauschen darübergelegt und in alle Richtungen verzogen. Damit es auch richtig scheiße aussah, fotografierte sie das Bild auf dem Laptopmonitor mit ihrem Handy ab und schickte es an die Redaktion. Dazu ein bisschen Text, in dem eine frei erfundene Angestellte sagen durfte, dass sie von Holsbein auf eine ziemlich primitive Art angemacht worden sei. Außerdem ein paar längst bekannte Details aus der Tatnacht sowie einige Mutmaßungen, wohin Holsbein flüchten könnte. Zum Schluss durfte die Polizei noch sagen, sie gebe aus ermittlungstaktischen Gründen keine Auskunft über den Fall. Der Artikel war höchstens halb so lang wie die geforderten fünftausend Zeichen, aber Aline hoffte, dass das Foto als Ersatz für mehr Informationen ausreichte.
Читать дальше