Das tat es offenbar. Gerade kam eine Whatsapp-Nachricht von Camenzind rein: »Ich will gar nicht wissen, wie du an die Aufnahme und an die Infos gekommen bist, aber mach weiter so! Gruß, C.«
Aline verfolgte auf dem Computer, auf welcher Route Holsbein bisher unterwegs gewesen war. Auch wenn die Ortung nicht immer sehr genau war, konnte sie durch das Bewegungsprofil dennoch deutlich ausmachen, dass er die Autobahn mied und stattdessen die Überlandstraße benutzte. Wenn sie selber schön auf der Autobahn blieb, würde sie ihn bald eingeholt haben.
* * * * *
Es war elf Uhr, und noch immer keine Neuigkeiten vom Feuerteufel. Leimbacher ging unruhig in der Redaktion auf und ab. Er sorgte sich, den Themenlead in der Sache an die »Nordost-Nachrichten« zu verlieren. Dass diese Arschlöcher Holsbein in Frankreich ausfindig gemacht hatten und dies sogar mit einem Bild beweisen konnten, war gar nicht mal so übel gewesen, das musste er zugeben. Dummerweise ließ das den »Amsheimer Boten« schlecht aussehen, schließlich hatte Frau Öztürk den Feuerteufel deutlich weiter im Norden ausgemacht.
Als Leimbacher hinter Püppy stehenblieb, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. »Was zum Teufel machst du da?«
»Ich schreibe einen Artikel über Richards Flucht.«
»Das sehe ich. Woher hast du das?«
»Hier.« Püppy reichte ihrem Chef die aktuelle Ausgabe des »Ostschweizer Tagblatts«.
»Dir ist schon klar, dass du hier gerade unsere Geschichte abschreibst?«
»Wie …?«
»Na hier, die beziehen sich in ihrem Artikel auf die Aussage von Frau Öztürk, die wir gestern in unserer Zeitung hatten.« Leimbacher knallte das »Tagblatt« auf Püppys Schreibtisch. »Okay, also, du rufst jetzt diese Frau Öztürk an und fragst sie, wie sie so weit danebenliegen konnte. Und dann fragst du sie auch noch, wohin Holsbein unterwegs ist. Hast du übrigens noch einmal versucht, den Wichser zu erreichen?«
»Ja, ein paar Mal, er scheint sein Telefon ausgeschaltet zu haben. Aber ich habe vorhin eine Mail von ihm bekommen. Also ich glaube, sie ist von ihm. Als Absender steht ›König Chumbawamba‹.«
»Zeig her!« Leimbacher beugte sich zum Bildschirm runter und las: »Hallo Sarah, die Sache mit Rotterdam hat leider nicht geklappt. Ich bin jetzt auf dem Weg nach Westfrankreich und versuche, irgendwo in Bordeaux einen Job in einem Weinberg zu bekommen. Die suchen immer Saisonarbeiter und stellen keine Fragen. Ich schreibe dir das nur, damit du dir keine Sorgen machst. Bitte erzähl dem Alten nichts davon, und auch nicht Kathrin. Liebe Grüße, Richard.«
Leimbacher kratzte sich am Hinterkopf. »Der Scheißkerl will uns doch reinlegen. Er kann ja nicht im Ernst glauben, dass du mir nichts von dieser Mail erzählen würdest. Also, du rufst jetzt Frau Öztürk an und quetschst sie ein wenig aus. Wenn sie auch etwas von Westfrankreich erzählt, hauen wir die Sache raus.«
* * * * *
Holsbein war unsicher, ob er nicht ein wenig zu dick aufgetragen hatte. Leimbacher war zwar ein verdammter Vollidiot, allerdings auch nicht komplett bescheuert. Aber selbst wenn es nicht klappen sollte, den »Amsheimer Boten« auf eine falsche Fährte zu locken: Rückverfolgen konnten sie seine Nachricht auf keinen Fall. Er hatte sein altes »König Chumbawamba«-Konto auf dem Anonymizer-Server eines griechischen Anarchisten-Computerclubs reaktiviert. Das hatte er einst eingerichtet, um auf seine ganz persönliche Art Stadtpräsident Ehrbar nach dessen Wahlsieg zu gratulieren. Und einigen seiner Stadtratskollegen noch dazu. Für den US-Nachrichtendienst würde die Verschlüsselung vielleicht nicht reichen, aber normale Bullen hätten nicht die geringste Chance, da irgendwas rauszukriegen.
Holsbein mochte es, wie sich bei der Fahrt in den Süden das mediterrane Klima immer deutlicher bemerkbar macht und sich die Landschaft langsam verändert. Anstelle der langweiligen satt-grünen Wiesen gab es von der Sonne versengte Felder, die Erde war nicht mehr kackbraun, sondern ockerfarben bis oxidrot. Es lag mehr Abfall herum. Und natürlich durfte auch der würzige Duft von Pinienholz-Feuern nicht fehlen. Irgendwo brannte schließlich immer ein Stück Wald.
Der Artikel der »Nordost-Nachrichten« hatte ihn nachdenklich gemacht. Auf dem Bild war möglicherweise sein Kopf, der Körper aber gehörte garantiert nicht ihm. Nie im Leben würde er so eine spießige Lederweste tragen. Der Tankstellenshop sah auch nicht typisch französisch aus. Und primitive Anmachen brachte er nur zustande, wenn er ziemlich breit war. Was also bezweckten die damit? Und wer war diese Silvia Aeschlimann, die als Autorin des Artikels zeichnete? Der Treffer mit Vienne konnte Zufall sein, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass da etwas nicht stimmte. Er musste vorsichtig sein.
Fünf Minuten nachdem Holsbein den Ort Lunel passiert hatte, konnte er das erste Mal im Dunst das Meer erahnen. Vor ihm tauchte La Grande Motte auf. Die pyramidenartigen Appartementhäuser dieses durchgeknallten Architekten Jean Balladur waren schon von Weitem zu sehen. Er bog in die Küstenstraße ein, die zwischen dem Meer und dem Etang de l’or in einem weiten Bogen nach Süden führte.
* * * * *
Aline funkte Holsbeins Handy an, das nach einigen Sekunden mit einer SMS antwortete. Sie tippte den Code in den Laptop ein und wartete, bis sich die Karte langsam aufbaute. »Scheiß Empfang hier«, fluchte sie. »Frontignan …, mal sehen …« In einem weiteren Browserfenster wählte sie einen Routenplaner an und checkte die Distanz. Holsbein Vorsprung war auf knapp eineinhalb Stunden zusammengeschmolzen. Kein Wunder: Während er sich auf staubigen Landstraßen Richtung Süden durchkämpfte, war sie auf der Autobahn erstaunlich schnell vorangekommen. Nur an den Zahlstellen verlor sie jeweils einige Minuten.
Aline musste für kleine Mädchen, aber die Toiletten auf den Autobahnparkplätzen waren ihr zuwider. Deshalb verzog sie sich zwischen die Büsche und versuchte zu vermeiden, dass sie auf dem abschüssigen Gelände mit runtergelassener Hose das Gleichgewicht verlor. Als sie sich wieder aus dem Dickicht gekämpft hatte und auf den Parkplatz trat, stieß sie beinahe mit zwei Lastwagenfahrern zusammen, die sie überrascht anglotzten.
Aline war gleich auf hundertachtzig. »Was wollt ihr denn, ihr verdammten Schwanzlutscher?«, schrie sie die beiden an und stapfte zurück zu ihrem Auto. Die zwei schauten ihr verwirrt nach. Sie hatten sich lediglich ein wenig die Füße vertreten wollen und standen nun plötzlich als Triebtäter da.
Wütend schlug Aline die Autotür zu und öffnete alle Fenster. Es war Zeit, sich um den nächsten Artikel zu kümmern. Sie rief über Facetime ihre Freundin Danica an. Auf dem Display erschien eine Brünette mit hochstehenden Wangenknochen und großen Lippen.
»Hey meine Süße«, schepperte es aus dem Lautsprecher, »hast du deine Haare geschnitten?« Aline drehte das Handy rund um ihren Kopf, damit Danica ihre Frisur besser sehen konnte. »Du siehst ja aus wie so eine Skinhead-Tussi.«
»Findest du?« Sie grinste, fuhr sich über die millimeterkurz geschorenen schwarzen Haare und zupfte ihren Pony und die langen Strähnen über ihren Schläfen zurecht. »Sieht doch geil aus, oder?«
»Na ja, ist nicht meins, aber das musst du selber wissen. Jetzt halt dich fest, ich habe vorhin mit meinem Vater telefoniert. Hast du was zum Schreiben?«
* * * * *
Auf der Straße war ziemlich viel los. Von allen Seiten latschten die Leute über die Fahrbahn und Holsbein musste tierisch aufpassen, dass er nicht einen dieser unbekümmerten Idioten plattmachte. Er wollte ein paar Tage in Marseillan-Plage unterkommen. Das Kaff kannte er von einem Zelturlaub mit Kollegen. Fünfzehn oder sechzehn Jahre alt mochte er da gewesen sein; sie hatten eine Woche lang durchgesoffen und sich die Birne weggekifft.
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