Nach gut einstündiger Fahrt hatte Holsbein Belfort erreicht. Erst einmal musste eine Autowerkstatt her, die sein Rücklicht reparierte. Er konnte es nicht riskieren, deshalb nochmals von den Bullen angehalten und kontrolliert zu werden. Am liebsten wäre ihm eine kleine Hinterhofschrauberei gewesen, denn er befürchtete, dass Vertragsgaragen die Kunden registrierten und bei Schäden, die zweifelsfrei durch Unfälle verursacht worden waren, automatisch Meldung machten. So langsam würde er noch paranoid.
Die Suche zog sich hin, denn da Holsbein das erste Mal in Belfort war, fuhr er einfach kreuz und quer durch die Stadt. Als er gleich neben dem Friedhof endlich eine Werkstatt fand, war die bereits geschlossen. Lautstark fluchend lenkte er seine Karre wieder in die Richtung, in der er das Zentrum vermutete. Er wollte sich erst einmal eine Bleibe suchen. Keinen halben Kilometer stadteinwärts entdeckte er in einem Straßenzug mit vier- und fünfstöckigen Wohn- und Geschäftshäusern ein kleines, leicht angestaubtes Dreisternehotel.
Als die stark parfümierte und ebenfalls leicht angestaubte Dame des Hauses die Nummer seines Ausweises in den Computer eintippte, meldete sich der Verfolgungswahn erneut. Was wäre, wenn die Personalien in Echtzeit von einem Fahndungscomputer abgeglichen wurden? Dann stürmten hier in fünf Minuten zwanzig Flics rein, die ihm mit ihren Schlagstöcken den Schädel zertrümmern und ihn schließlich in Auslieferungshaft werfen würden.
Holsbein setzte ein Lächeln auf, das er für ziemlich unschuldig hielt. »Und, bin ich auf der Terror-Liste?«
»Wie bitte?«
»Meine Personalien …«, er zeigte auf den Computerbildschirm, »gehen die Daten nicht direkt an die Polizei zur Überprüfung?«
»Das ist ein ernstes Thema, mein junger Herr«, sagte sie, und winkte dann ab. »Es gab immer wieder Versuche, das durchzusetzen. Doch erst scheiterte das Ganze am Widerstand der Hoteliers, die einen Imageschaden fürchteten. Dann hat sich gezeigt, dass es technisch nicht ganz einfach ist und auch nicht wirklich günstig würde. Momentan ruhen die Pläne jedenfalls, soweit ich weiß. Aber nach dem nächsten Terroranschlag wird das Anliegen sicher wieder aus der Schublade geholt.«
»Aha«, murmelte Holsbein. Er hatte erfahren, was er wissen wollte und hoffte nun, dass sie zu quasseln aufhören würde und er sich endlich ein wenig ausruhen konnte.
»Wie läuft das denn bei Ihnen in der Schweiz?«, erkundigte sich die Dame.
»Ach, das ist von Region zu Region verschieden«, sagte Holsbein schulterzuckend. »An einem Ort werden die Daten automatisch an die Polizei weitergeleitet, dann fährt man fünf Kilometer, und dort müssen die Personalien lediglich registriert und aufbewahrt werden. Und natürlich wird überall darüber gestritten, die Vorschriften in die eine oder andere Richtung zu ändern.«
Sie schüttelte nur den Kopf: »Was euch Schweizern fehlt, ist ein starker Zentralstaat, der sagt, wo es langgeht. Das geht doch nicht, dass jeder machen kann, was er gerade will.«
* * * * *
Halb sieben Uhr abends, und die Kollegen aus Basel hatten noch immer keinen Treffer gemeldet. Widmer stand in der Einsatzzentrale herum, wo die Meldungen zusammenliefen.
»Ich sags dir, der ist uns entwischt«, sagte Suter, der sich wieder in seiner angestammten missmutigen Stimmung suhlte.
»Wer weiß«, entgegnete Widmer, »vielleicht hat er das Land ja gar nicht verlassen.«
»Oder er hat uns reingelegt und ist gar nicht in Basel über die Grenze.«
»Die Meldung ging ja aber an alle Schweizer Grenzwachkorps«, warf Widmer ein. »Jedenfalls haben wir nun lange genug gewartet. Jetzt können sich die Kollegen im Ausland mal ein bisschen an der Suche beteiligen.«
Widmers Diensthandy jammerte »La Paloma«.
»Echt jetzt?«, grinste Suter. »Du alter Romantiker.«
Widmer zeigte ihm den Stinkefinger und nahm den Anruf entgegen. »Ja bitte?«
Es war Armin Leimbacher vom »Amsheimer Boten«. »Herr Widmer, gut, dass ich Sie noch erwische. Wir haben gesicherte Hinweise, dass sich der Feuerteufel nach Deutschland abgesetzt hat und sich nun nach Rotterdam durchschlagen will. Dort versucht er als Matrose auf einem Frachter anzuheuern und will dann untertauchen.«
Widmer verdrehte die Augen. »Ja und?«
»Wissen Sie was darüber? Was ist Ihr Kenntnisstand? Und weshalb ist er Ihnen entwischt?« Leimbacher schien förmlich zu hecheln.
»Immer langsam, mein Guter. Erst einmal möchte ich wissen, von wem Sie das nun wieder haben.«
»Informanten, Widmer, wir haben In-for-man-ten!«
»Und deren Namen wollen Sie natürlich nicht nennen, wegen des Quellenschutzes, nicht wahr?«
»Ganz genau«, geiferte Leimbacher. »Nur unabhängige Medien können ihre Verantwortung als vierte Gewalt wahrnehmen.«
Widmer hätte ihm auf der Stelle den Hals umdrehen können.
»Also«, hakte Leimbacher nach, »wissen Sie jetzt etwas darüber? Sonst schreibe ich, dass die Polizei im Dunkeln tappt. Das möchten Sie doch nicht, oder?«
»Das ist mir so was von egal«, schnauzte Widmer ins Telefon. »Schreiben Sie, was Sie wollen.«
* * * * *
Holsbein hatte ein wenig geschlafen, dann im TV erfolglos den Pornokanal gesucht und sich schließlich mit Gedanken an Blondie schön einen runtergeholt. Wieso bloß verliebte er sich immer so schnell in die Frauen?
Ihm war nach etwas Zerstreuung und drei oder vier Bier zumute. Weit gehen musste er dafür nicht, gleich gegenüber dem Hotel gab es eine Bar namens Princesse. Der Laden sah so aus, als hätte ihn ein überambitionierter Regisseur für seinen Film als Treffpunkt für Kleinkriminelle und Nutten ausstatten lassen. Der Boden, die kleinen Pressholztische, die Plastikstühle, die dunkle Holzverkleidung – alles wirkte abgewetzt und schmuddelig. Der Messingüberzug des Tresens war matt und voller Flecken. An der durch den Rauch Zehntausender Zigaretten dunkelgelb gefärbten Decke hingen halbrunde orange Plastiklampen aus den Siebzigerjahren. Im hinteren Bereich gab es einen Spielautomaten, auf dem der einzige Gast herumdrückte.
Mittendrin stand der Patron, ein riesiger, dicker Kerl mit Stiernacken und Glatze, und starrte ihn ausdruckslos an. Er hatte sich eine mintgrüne Schürze um die Hüfte gebunden. Mit seinem weißen T-Shirt und den Hosenträgern sah er aus wie ein gigantischer Skinhead. Holsbein bestellte im Vorbeigehen ein Bier und setzte sich an der Bar auf den Hocker, der am wenigsten zerschlissen war. Er holte sein Handy mitsamt Kopfhörern hervor, denn nun war es Zeit für das Video von Stadtpräsident Ehrbar. Holsbein freute sich wie ein kleines Kind, als der Alte mit hochrotem Kopf über den Täter schimpfte und dabei dermaßen in Rage geriet, dass die Redaktion die übelsten Worte wegpiepen musste: »Unsere Region hat sich gerade eben von der Sache mit dem Dioxin erholt, Millionen von Franken haben wir in die Renaturierung investiert, und da kommt so ein mieses kleines – piep! – auf die – piep! – Idee, hier ein bisschen mit dem Feuerzeug rumzuspielen und uns alles kaputtzumachen.« Holsbein war schon klar, weshalb Ehrbar sich so aufregte. Als Besitzer eines großen Landgasthofs mit Hotelbetrieb war er auf die Touristen angewiesen, welche besonders im Sommer das Naturschutzgebiet rund um den Elsingersee genossen. Ansonsten hatte die Gegend ja nicht viel zu bieten.
In den Beitrag reingeschnitten waren Sequenzen von Feuerwehrleuten, die verendete Seevögel und Fische – darunter viele Welse, die sich in letzter Zeit stark vermehrt hatten – aus dem Wasser schaufelten und auf Anhängern wegkarrten. Das mussten mehrere Tonnen Kadaver sein, dachte Holsbein, dem alles andere als wohl war bei der Sache. Schließlich sah er sich selbst als eine Art Tierfreund. Wenn auch mit Ausnahmen. Den verdammten Hahn von Bauer Müller, der ihn jeden gottverfluchten Morgen um fünf Uhr aus dem Tiefschlaf riss, den hätte er nur zu gerne brennen sehen. Leider war das Viech als Erstes aus dem in Flammen stehenden Hühnerstall gerannt gekommen.
Читать дальше