Ein gepflegter Plausch ist selten geworden. Wer hätte gedacht, dass es nur eines Plausches bedurfte, um seine Seele zu heilen, zumindest für einen Moment. So lange, bis sie wieder da wären. Die dunklen Nächte, frei des Mondes, die Suicidals, die Einsamkeit, die Angst.
Chen legte sich zurück auf die Matte. Er spulte das Tongerät auf den Anfang und legte es vorsichtig dicht an sein Gesicht. Während Bill noch einmal über seine Zeit beim College berichtete, war er bereits eingeschlafen.
Als er am nächsten Morgen erwachte, wog seine Seele wieder etwas schwerer. Dennoch verharrte er nicht lange, stand auf, beging sein morgendliches Ritual am Ichitaka und machte sich sogleich mit dem Jutebeutel auf den Weg. Als er die Ebene erreichte, erschrak er, weil das Luftschiff verschwunden zu sein schien. Entrüstet blickte er wild um sich und stellte mit Erstaunen fest, dass die Jacky nicht weg, sondern in der Luft war. Sie schwebte gut fünfzig Meter über dem Boden, einzig an einem langen Seil aus Stahl befestigt.
„Natürlich…“, sagte Chen zu sich, während ihm der Schrecken noch immer in den Gliedern steckte, „Bill muss auch vorsichtig sein.“
Fröhlich, weil er seinen Plan nun doch weiterverfolgen konnte, ging er auf die Klippe zu. Einzig Milan schien über ihren Gast nur wenig erfreut zu sein. Immer wieder flog er in Jackys Richtung, nur um kurz davor einen Haken zu schlagen und seinen Angriff von vorne zu beginnen.
„Ach hab dich nicht so!“, zischte Chen. Mehr redete er nicht mit Milan an diesem Tag. Es fühlte sich falsch an. Vielleicht lag es daran, dass er zum ersten Mal seit langem wieder Worte mit einem Menschen gewechselt hatte. Vielleicht aber auch daran, dass er sich beeilen wollte. Nicht lange sollte Bill auf seine Antwort warten müssen. Er stieg hinab ins Tal, durchquerte das Dorf und betrat den alten Krämerladen. Er überlegte, was Bill wohl am liebsten mochte. Am Ende entschied er sich für ähnliche Dinge, über die auch er sich sehr gefreut hätte: eine Zahnbürste, Zahnpasta, eine Packung Lakritz, zwei Tafeln Schokolade, Dosenbrot, Drei Dosen Eintopf und ein Sack Reis, den er im Hinterzimmer gefunden hatte.
Beim Reis zögerte er zunächst. Auch ihm hätte das Korn geschmeckt und für eine Weile das Überleben gesichert. Doch seine Kartoffeln würden in einer Woche erntebereit sein und Bill hatte keine Möglichkeit, einen Acker anzulegen. So war es nur richtig, ihm den Reis zu überlassen. Schwer beladen machte er sich auf den Weg nach oben. Zweimal musste er pausieren, um wieder zu Atem zu kommen und das Brennen in seinen Schenkeln abklingen zu lassen. Er achtete darauf, dass die Pausen nicht neben den beiden Toten passierten, deren Leichen noch immer unverändert auf der Treppe moderten und faulten. Genau genommen bemühte er sich, besonders schnell an den beiden vorbeizukommen, denn der Duft von Verwesung und Eiter wehte ihm schon Meter zuvor entgegen. Krähen und Geier hatten sich an ihren Kadavern gelabt. Wo einst Augen stierten, waren nur noch leere Höhlen, die aufgedunsenen Körper durchzogen von Bissen und Rissen. Vielleicht hätte er gut daran getan, die Körper über das Geländer in die Tiefe zu werfen, doch nun wagte er es nicht mehr, sie zu berühren.
Als er sich der Kante näherte, sah er zuerst Jacky, die weit über allem anderen schwebte. Er wanderte durch das hohe Gras, bis an die Stelle, an der er gestern Aufnahmegerät und Fläschchen erhalten hatte. Chen kniff die Lider zusammen und hielt die flache Hand schützend über seine Augen, um beim grellen Sonnenlicht besser gen Himmel sehen zu können. Er erkannte Bill, wie er ihn vom Geländer aus beobachtete und zu winken begann. Chen winkte zurück. Dann legte er den Jutebeutel ins Gras und das Aufnahmegerät daneben. Er verneigte sich und ging zurück in Richtung Wald. Von dort aus beobachtete er, wie sich Jacky langsam gen Boden absenkte und schließlich sanft aufsetzte. Bill kam zum Vorschein und holte Jutebeutel sowie Aufnahmegerät ab. Nachdem er damit im Luftschiff verschwunden war, machte sich auch Chen auf, denn es war ihm danach, sich zu bewegen. Die Schwere vom Morgen hatte ihn verlassen. Zurückgeblieben waren das Glück und die Schönheit seines Plausches mit Bill. Es war etwas an seiner Stimme, die Chen dazu anhielt, die Welt aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Möglichkeiten dort zu erkennen, wo er früher niemals welche vermutet hätte. Er bewegte sich mit einer Leichtigkeit durch das Geäst, wie er sie über Jahre hinweg vermissen ließ. Nie hatte er sich zu weit von der Hütte fort getraut, nur wenn es nötig war, begab er sich auf längere Wanderschaften, meistens, um zu jagen, zu pflanzen oder Milan zu treffen. Schon gar nicht war er in die Richtung gestreunt, aus der er vor über vier Jahren gekommen war. Noch konnte er die Bächlein benennen, die er überquerte. Jashin, Komomoto, Rin. Doch den nächsten schon würde er nicht mehr beim Namen rufen können, einfach, weil er ihm niemals einen gegeben hatte.
Er betrat einen Teil des Waldes weit hinter seiner Hütte, entgegen der Richtung, die zur begrasten Ebene führte, dort, wo es dichter und dunkler war, wo es kein Wasser gab und die Bäume alle Nadeln trugen. Auch war der Boden braun und stachelig, die Sicht begrenzt und die Luft durchtränkt vom Geruch nach klebrigem Harz. Er kämpfte sich durch das Dickicht und hielt nur sehr selten an, wenn er ein Geräusch hörte, das er sich nicht auf Anhieb erklären konnte. So ging es lange. Es musste eine Stunde gewesen sein, vielleicht auch zwei. Erst dann wurde der Wald lichter und das Gezwitscher der Vögel wieder lauter. Früher konnte man von dort aus bereits die Straße hören, denn sie war oft befahren in den alten Tagen. Heute lag sie verlassen da und das Gras wucherte wild an beiden Seiten empor. Chen war nur ein einziges Mal an diesen Ort zurückgekehrt. Damals, um Benzin aus dem Auto zu saugen für seine Lampe. Und auch heute noch stand der Toyota Geländewagen geparkt am Straßenrand. Doch seine Felgen waren noch rostiger geworden, ein großer Ast lag auf der Windschutzscheibe und Brennnesseln schlängelten sich an den Seiten nach oben. Egal, er war nicht wegen des Benzins gekommen, keine Notwendigkeit hatte ihn herbestellt. Es war mehr eine Laune gewesen, ein stiller Ruf, den er empfing, als er an diesem Morgen das Luftschiff gesehen hatte, geradezu ein Bedürfnis. Denn wenn der Wind richtig stand, war das einzige Hindernis für den herrlichen Duft der dichte Wald. Dieser Duft war der Grund für seinen spontanen Ausflug.
Chen überquerte die Straße und ließ dabei seinen Blick kreisen. Das Land ab hier war flacher. Es gab keinen Wald mehr, keine Berge oder Schluchten. Vereinzelt hob sich das Terrain sanft auf und ab, wie die Brust beim Atmen. Nach einer Weile schloss er die Augen. An anderen Tagen hätte ihm das die nackte Angst in die Knochen getrieben, doch jetzt vertraute er auf den guten Willen der Welt, der ihm lange abhandengekommen war. Als er tief einatmete konnte er es riechen, schmecken, sogar fühlen. Das Salz, die Gischt, die Wellen. Wenn der Wind nur richtig stand, wehte er die Seele des Meeres bis an den Waldesrand heran, obwohl die See erst fünfzig Kilometer entfernt begann und von Chens Position aus nicht einmal zu erblicken war. Der Duft nach Freiheit überwältigte ihn. Er warf den Kopf in Nacken und war so überglücklich am Leben zu sein, genoss die Möglichkeit, diesen Augenblick voll und ganz auszukosten. All das nur wegen der Stimme eines alten Mannes? Oder war es die Idee, die in ihm geboren worden war. Die Idee, dass er vielleicht gar nichts zu befürchten hatte? Und wenn er nichts zu befürchten hatte, dann gab es die Möglichkeit, dass irgendwann niemand mehr fürchten musste. Warum hatte er die Begegnung mit den Suicidals überlebt? Einmal könnte Zufall sein, aber zweimal? Nein, so gut meinte es das Schicksal nicht mit ihm. Schicksal… Vielleicht war es genau das. Vielleicht war das der Grund, der Bill zu ihm geführt hatte. Warum sonst juckte ihn dieses starke Bedürfnis, mit einem Fremden alles zu teilen, was er besaß? Und war es überhaupt dienlich, ihm davon zu erzählen, von einer Anomalie, wo doch schon damals alles Böse, alles Dunkle und all das Leiden mit einer ‚Anomalie’ begonnen hatte? Was für einen Unterschied machte es in seinem, in ihrer aller Leben, wenn es nur Chen so erging und die Erprobung dieses Wunders an anderen einem Mord gleichkommen konnte? Doch warum sonst sollte es in ihm so warm sein, wie seit Jahren schon nicht mehr? Warum gerade jetzt und warum so unendlich schön? Zufälle mochte es geben, aber selten fühlten sie sich derart… derart vollkommen an.
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