Das Luftschiff vor ihnen war sehr viel kleiner als seine großen Vorbilder aus vergangenen Zeiten. Der graue Ballon lag eher mittig und nicht oben auf, die Kabinen aus rötlich-braunem Stahl verliefen links und rechts am Polymer entlang. Vorne war das verglaste Cockpit, welches mithilfe von dünnen Stahlstreben segmentiert und stabilisiert wurde. Insgesamt erinnerte das Gefährt an die Form der Nautilus, dem sagenumwobenen U-Boot, das die Meere befuhr, mit seinem Herrn und Meister, Kapitän Nemo. Horizontale Metallgitter links und rechts formten eine Art Terrasse, die mit einem ebenfalls rötlich braunen Geländer abschlossen und so verhinderten, dass man einfach hinunterfallen konnte. Das Schiff besaß auf beiden Seiten jeweils eine rund ausgeschnittene Tür, die in Form und Funktion denen von U-Booten ähnelten und ungefähr auf Augenhöhe ein kopfgroßes Bullauge besaßen. An Backbord lag diese vorn, kurz bevor der stählerne Rumpf in das gläserne Cockpit überging und auch die Terrasse in einer galant geschnittenen Kurve mit dem Rest verschmolz. An der Steuerbordseite lag die Tür relativ mittig und direkt darüber führte eine leiterartige Treppe aus Metall über den gesamten Ballon hinüber. Erst nach geschlagenen Minuten des Staunens und Betrachtens und dann wieder Staunens fand Bill zu Wort.
„Präsentation?“, fragte er, während er sich Freudentränen aus den Augen wischte.
„Ja, natürlich. Wir werden Gelium präsentieren, Bill. Ein Stoff, der bei der Zufuhr von wenig Energie spürbar schwerer wird, ist sehr nützlich. Du hast uns damit wahrscheinlich die nächsten Jahrzehnte finanziert. Ich dachte du demonstrierst es der Presse. Als Erfinder“, er deutete auf das Luftschiff.
„Wir haben auch unser SolarPlane verwendet, die Oberfläche des Ballons kann also die Batterien laden. Die regulieren die Temperatur im Innern des Ballons und treiben die Propeller an. So kannst du Höhe, Geschwindigkeit und Richtung kontrollieren. Theoretisch kann es ewig fliegen“, triumphierte Jake und betrachtete stolz sein Bauwerk. Ein hoher Ton riss ihn aus seiner Begeisterung heraus. Er nahm ein Handy aus der Tasche und verzog sein Gesicht zu einer Schnute.
„Tut mir leid, da muss ich ran gehen. Sieh sie dir doch mal genauer an!“, sagte er und ging in Richtung Hangartor.
„Und überleg dir einen Namen!“, rief er ihm noch nach, ehe er den Anruf entgegennahm und Bill allein ließ. Zum ersten Mal allein mit diesem Schiff. Seinem Schiff.
Er tastete sich langsam vor, wie bei einem scheuen Tier, das durch ungestüm hektische Bewegungen leicht zu verschrecken war. Irgendwann kam er ihr so nahe, dass er seine Finger langsam über das rostbraune Metall gleiten lassen konnte. Einige Augenblicke später betrat er den „jungen“ Zeppelin, beging den terrassenartigen Vorsprung am Rumpf, lauschte den Tönen, die seine Schuhe auf den Metallgittern verursachten, blickte hinauf und hinab, schüttelte ungläubig den Kopf und lachte und musste sich immer wieder daran erinnern, dass es doch real war, was er vor sich sah.
Da stand er, Bill Frederic Till, an Bord eines Luftschiffes, befüllt mit einem Element, welches das seine war, glücklich an dem Ort, an dem er sterben sollte.
Denn es passierte drei Wochen später. Jake hatte die Premiere wegen der jüngsten Ereignisse verschieben lassen. Es hieß, man solle mindestens einen Meter Abstand voneinander nehmen. Dabei war es gleich, ob Familie, Freund oder Feind. Am schwersten war es, diese Maßnahme der eigenen Tochter zu erklären und ihr gleichzeitig zu versichern, dass alles gut werden würde. An einem Donnerstag bekam er dann auf einmal einen Anruf von Jake. Er nahm ihn entgegen. Jake klang außer Atem, vor allem aber meinte Bill ein Gefühl in seiner Stimme zu vernehmen, das ihm so gar nicht nahe lag: Jake hatte Angst.
„Bill? Bill? Bist du zu Hause?!“, schrie er in den Hörer.
„Ja, bin ich, was…“
„Bill, schnapp dir deine Familie und fahr zum Luftschiff, so schnell wie du kannst. Ihr müsst fliehen. Sie werden es in fünf Minuten verkünden. Dann wird die Hölle losbrechen. Hast du gehört, so schnell du kann…“ Die Verbindung brach ab. Bill kannte Jake gut genug, um zu wissen, dass es sich nicht um einen Scherz handelte, dass es ernst war und dass er nur zur Flucht ermahnte, wenn wirklich kein anderer Ausweg blieb. Er rief seine Frau und erklärte ihr kurz, wozu Jake ihnen geraten hatte. Sie verstand sofort und hastete nach oben, um das allernötigste zusammenzupacken. Indes rannte er zum Zimmer ihrer Tochter und klopfte.
„Wir machen einen Ausflug!“, sagte er und versuchte dabei so entspannt wie möglich zu klingen.
„Aber wir dürfen doch nicht raus?“
„Heute gibt es für uns eine kleine Ausnahme.“
„Dürfen wir wieder nebeneinanderstehen?“
„Nein, noch nicht, wir müssen immer noch Abstand halten, aber wir machen trotzdem einen Ausflug. Komm bitte runter!“
Eine viertel Stunde später standen sie alle drei im Wohnzimmer, aufgestellt im Kreis und mit genügend Abstand, um den anderen nicht zu gefährden.
Bill: „Okay, wir müssen uns aufteilen. Ich und…“, er wollte gerade den Namen seiner Tochter nennen, als seine Frau ihn unterbrach.
„Ich nehme sie mit!“, sie sah ihn halb überzeugt, halb wütend an. Es war der feurig entschlossene Blick einer Mutter, die ihr Kind niemals allein lassen würde, für keine Sekunde. Da hatte es keinen Zweck zu argumentieren.
„Gut, du und Mama ihr fahrt im SUV. Du sitzt ganz hinten, Mama ganz vorn. Wir fahren zu mir auf die Arbeit. Schatz, Hangar neun, das ist der ganz hinten. Dort steht es.“ Sie nickten einander zu.
Bill leitete sie an. Noch nie hatte er während einer Fahrt so oft in den Rückspiegel geblickt wie an jenem Tag. Als sie fünf Minuten unterwegs waren, wurde es bereits über das Radio verkündet. Der kritische Radius sei drastisch gestiegen, man solle anderen Menschen ganz aus dem Weg gehen, urbane Gebiete verlassen. Außerdem galt es, sich vor den Verrückten zu schützen, die sich Suicidals nannten.
Innerhalb von zehn Minuten füllten sich die Straßen. Menschen gingen aufeinander los und fielen mehrere Meter voneinander entfernt zu Boden. Man hörte Rufe, die Sirenen donnerten über die Skyline der Stadt und ohne die frühe Warnung von Jake hätten sie es niemals in das Büro geschafft. Es grenzte an ein Wunder, dass sie die Strecke überlebten.
Das Gelände schien verlassen, kein Pförtner, keine Autos auf dem riesigen Parkplatz, kein Jake Hall. Das Tor von Hangar neun stand weit offen, ebenso das große Dach, welches über einen Schienenmechanismus beiseite gefahren werden konnte. Es war wohl alles für ihre Flucht vorbereitet worden. Bill blieb gut zehn Meter vom Luftschiff entfernt stehen, seine Frau parkte hinter ihm. Er stieg aus und zeigte mit einer Handgeste beiden an, sitzen zu bleiben. Er hatte ein seltsames Gefühl und wollte prüfen, ob ihnen jemand beim Schiff auflauerte, immerhin war das Gelände momentan unbewacht und für jeden zugänglich. Er rannte voran, betrat das Luftschiff und jagte durch jeden Raum. Erst als sicher war, dass sich niemand Zutritt verschafft hatte, startete er die Maschine, ging nach draußen an das Geländer und winkte den Beiden zu. Seine Tochter und Frau stiegen aus und liefen schnellen Schrittes mit Koffer und Rucksack auf ihn zu.
In dem Moment kamen sie von hinten. Sie waren zu dritt gewesen, das wusste er noch, einer mittig, die anderen beiden jeweils links und rechts mit gebührendem Abstand, um sich nicht aus Versehen gegenseitig das Leben zu nehmen. Sie mussten sie von der Ferne ausgespäht haben, auf ihre Beute lauernd, mit Augen, gelb umrandet wie die Blüte einer Sonnenblume. Suicidals.
Bill schrie, während er beobachten musste, wie der erste losrannte, schnell, wie von Sinnen, gestört und seelenlos. Er konnte das Gesicht seiner Frau sehen, im einen Moment erfüllt von Panik, Weinen und Hast, im nächsten Moment erschlaffend und ruhig. Sie ging auf die Knie, hinter ihr fiel der Verfolger vornüber und landete tot auf dem Boden.
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