„Papa, hast du Angst vor heute?“, fragte seine Tochter vorsichtig vom Beifahrersitz aus, während sie die noch dunklen Straßen entlangfuhren.
„Warum sollte ich Angst haben?“
„Weieeeeel…“, sie erhob den Zeigefinger und ihre Worte glichen mehr einer Mahnung als einer Feststellung, „…du mit Mama über heute geredet hast. Und du hast den Radio nicht angemacht. Du machst immer Radio an, wenn wir fahren!“
Obwohl sich Bill auf die Straße konzentrieren musste, konnte er dennoch ihre Blicke spüren. Sie hatte sich in ihrem Sitz aufgerichtet und sich ihm zugewandt. Ihre braunen Augen leuchteten in der Morgensonne wie Tigeraugen-Quarze. Das schwarze Haar hing ihr lockig an zwei Zöpfen seitlich vom Kopf. Die Nase stupsig, das T-Shirt blau, denn Blau war ihre Lieblingsfarbe. Eine Löwin, gefangen in der Gestalt eines neunjährigen Mädchens.
Sie ließ nicht locker. Eilends fügte sie hinzu: „Mama sagt, wir müssen erzählen, wenn wir Angst haben!“
Bill begann zu lachen. Es half alles nichts, er musste ehrlich zu ihr sein.
„Mein Chef will sich heute mit mir treffen. Er will etwas mit mir besprechen und ich weiß noch nicht was. Wir haben sehr lange nicht miteinander geredet. Ich habe aber keine Angst davor. Ich bin nur gespannt, was er mir berichten wird.“ Sie legte den Kopf zur Seite und antwortete mit einem langen: „Hmmmm…“
Nach einigen Sekunden schüttelte sie den Kopf und verschränkte die Arme: „Das ist aber doch kein Grund für keine Musik!“
„Ich hab’s ja verstanden!“, lachte Bill und drückte auf den Knopf. Als sie die Melodie erkannte, begann sie leise mitzusingen, so wie sie es jeden Morgen tat. Weil ihre Füße nicht den Boden erreichten, wippte sie damit auf und ab im Takt.
Ihre gemeinsame Fahrt neigte sich dem Ende zu. Bill bog in die Straße ihrer Elementary School ein und bremste direkt vor dem Eingang zur Schule ab.
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch“, antwortete sie, sprang vom Sitz auf und ließ ihn einen Herzschlag später allein im Auto zurück. Er sah ihr nach. Ihrem schwarzen, krausen Haar und dem blauen Schulrucksack mit Frozen-Motiv.
Als er eine knappe halbe Stunde später auf das Firmengelände einfuhr, begrüßte ihn der Pförtner wie jeden Morgen mit einem Nicken. Der Hauptsitz von Windly war über die Jahre so gewachsen, dass der Gebäudekomplex eher an eine Messestadt als an ein Unternehmen erinnerte. In Halls Büro angekommen, sah er seinen Freund zum ersten Mal nach drei Monaten wieder persönlich. Sein Kleidungsstil war gleichgeblieben, das gestreifte Hemd, das ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, flatterte unter einem knallig gelben Pullover hervor und die Jeans endete an weißen Adidas Sportschuhen. Er wirkte müde. Sein braunes Haar war nicht gekämmt worden, seine Stirn glänzte, doch die blauen Augen strahlten ihm euphorisch entgegen.
„Bill, schön dich zu sehen!“, jubilierte er und umarmte ihn. Das war ungewöhnlich. Sie waren Freunde im Geiste, doch körperlicher Kontakt war eher selten gewesen. Bevor Bill darüber nachdenken konnte, deutete ihm Jake an, sich zu setzen.
„Also Bill, du wirst gleich fragen, wo ich die ganze Zeit gewesen bin.“
„Eigentlich will ich fragen, wie’s dir geht!“, konterte Bill.
„Mir? Sehr gut, Bill, schlechten Menschen, du weißt, wie es ist!“, er lachte. Es war seine Standardantwort. Wann immer man ihn nach seinem Befinden fragte, donnerte es aus ihm heraus: Schlechten Menschen geht es immer gut! Dabei war er Bills Meinung nach von ‚schlecht‘ meilenweit entfernt.
Bill: „Also gut, dann tu ich dir mal den Gefallen: Wo warst du?“
„Schön, dass du fragst!“, grinste Jake. „Ich war in China. Und ich habe eine Überraschung für dich. Bill, wir arbeiten jetzt seit… ja, seit wann eigentlich… seit… scheiße, seit über 25 Jahren zusammen. Gott, sind wir alt geworden“, er seufzte, dann erhob er sich aus seinem Stuhl.
„Komm mit, ich zeig’s dir!“, befahl er und öffnete die Tür nach draußen. Sie gingen die Gänge durch das Bürogebäude bis hinaus ins Freie. Dort ließen sie die Produktions- und Bürogebäude hinter sich, marschierten gar bis zum entlegensten Hangar des Geländes. Mitarbeiter der theoretischen Abteilungen, so wie Bill einer war, kamen nie dorthin, außer es gab einen Prototyp zu besichtigen.
Jake: „Ich verdanke dir viel. Du bist dageblieben, als es mir damals finanziell an den Kragen ging. Du hast zwei Jahre quasi für nichts gearbeitet.“
„Jake, ich…“, wollte Bill ihn unterbrechen, doch der ermahnte ihn mit einer sanften Geste zum Schweigen.
„Nein, ich werde das nie für selbstverständlich nehmen. Es war ein Geschenk. Und jetzt habe ich eines für dich! Erinnerst du dich an deine Doktorarbeit?“
„Da musst du meinen Ghostwriter fragen!“, lachte Bill.
„Ist mir klar! Nein, ich rede von Gelium. Das Element. Dein Element. Mit signifikant variabler Masse selbst bei minimaler Energieänderung.“ Bill verstand nicht, worauf er hinaus wollte.
„Ich habe mit deinem Vater gesprochen.“
„Mit meinem Vater? Wieso das denn?“
„Ich wollte wissen, ob es irgendeinen Traum gibt, den du dir schon immer erfüllen wolltest. Ein kleiner Herzenswunsch. Er war so lieb, mir eine Skizze aus deiner College-Zeit zu schicken.“ Bill starrte seinen Begleiter an und wusste nicht so recht, ob dieser es ernst meinte oder nur seinen Schabernack mit ihm trieb.
„Ich hatte schon immer so ein Gefühl dabei, so als wärst du da etwas wahrlich Großem auf der Spur gewesen. Dass es nur einen kleinen Schubser von jemandem wie mir braucht.“ Sie blieben vor dem großen Schiebetor zu Hangar neun stehen.
„Ich hatte große Mühe, es vor dir geheim zu halten. Weil ich in China dabei sein musste, konnte ich das alles hier nicht überwachen, aber es hat ja doch geklappt!“
Jake lehnte sich gegen das Tor und sah Bill direkt in die Augen.
„Bill… Damit sind wir quitt!“
Mit diesen Worten stieß er das Tor auf. Bill sah es zuerst nicht. Seine Augen brauchten einige Sekunden, um sich an den Helligkeitsunterschied zu gewöhnen. Doch sobald er die Umrisse erkennen konnte, wusste er schlagartig, was sein Freund für ihn gebaut hatte und was sich da vor ihm aus den Schatten erhob. Es war, als reiße es ihn durch ein Wurmloch in eine andere Dimension, in eine andere Zeit, dorthin, wo er noch jung war, am College, voller Träume und Flausen im Kopf. Als er fantastische Gefährte in der Theorie konstruierte und versuchte, mit seinen Kenntnissen über Physik und Ingenieurskunst aus Ideen Realität zu erschaffen. Während er Jake ungläubig ansah, lief ihm bereits eine Träne die Wange hinunter. Jake wurde verlegen, flüchtete sich in die Tat und hielt ihm einen kleinen Glasbehälter hin.
„Wir haben es geschafft, Bill. Deswegen war ich in China. Das Team dort hatte eine Idee. Vor ein paar Wochen konnten wir es das erste Mal synthetisch herstellen.“ Bill nahm den Behälter entgegen und wusste, was sich darin befand, ohne dass Jake es aussprechen musste. Es sah aus wie ein feiner, blauer Nebel, als hätte man ein Stück des Himmels eingefangen.
„Das ist Gelium!“
Bill wusste nicht, was er sagen sollte. Und auch Jake schien der Situation sichtlich unbeholfen gegenüberzustehen. Er berührte ihn an der Schulter: „Komm, sieh sie dir an!“
Langsam traten sie an das Gebilde heran, dessen Gestalt Bill so vertraut vorkam, als hätte er ein solches Exemplar seit Jahren im eigenen Garten stehen.
„Ich habe alles so bauen lassen, wie du es am College skizziert hast. Wegen deines Elements funktioniert es jetzt auch. Wir haben den Ballon damit befüllt. Ah, eine Sache aus den Skizzen hab ich verändert: Die Stripstange am Bett fehlt, aber weil deine Frau bei der Präsentation sicher auch dabei sein will, dachte ich, es sei das Beste, darauf zu verzichten.“
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