1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 „Leute ich kann’s euch sagen, ich bin heute mit den größten Schmerzen im Mund aufgewacht, Ziehen, Stechen, Drücken, Knacken, Zacken, einfach unglaublich, ich glaube mein Gebiss fault mir einfach weg.“
Eingespielte Lacher eines Publikums.
„Nein, wirklich, erst heute bin ich einem Suicidal begegnet. Nachdem ich Hhhhhhhhhallo gesagt habe, ist er tot umgefallen!“
Wieder Gelächter.
„Hach Leute, ich hoffe, das hört bald auf. Und mit ‚das‘ meine ich den ständigen Hunger, bald können sich die Suicidals bei mir aussuchen wie sie sterben: Vom Gestank oder vom geplatzten Trommelfell. Mein Magen knurrt in einer Tour!“
Ein eingespielter Tusch.
Stan war immer fröhlich in seinen Shows, kam vom hundertsten ins tausendste und ließ nie etwas vom Gefühl der Feindseligkeit ihrer gemeinsamen Welt durch den Äther wandern. Doch manchmal verschwand er unangekündigt, sendete für Tage, Wochen oder Monate gar nichts mehr und ließ Chen in Trauer zurück, weil er dann immer befürchten musste, dass sein Freund – konnte er ihn einen Freund nennen? – dass sein Freund nicht mehr existierte. Er hatte ein genaues Bild von ihm vor Augen, obwohl er ihm nie begegnet war und gar nicht wusste, wo sich seine Station befand.
Orangefarbenes Haar hatte er und er war sehr dünn, schlaksig, blass. Die Nase stand etwas auf, das verlieh ihm Ähnlichkeit zu einem Schwein, doch die Augen waren ganz und gar nicht tierartig, sondern voller Menschlichkeit, hellblau, häufig hin und her zuckend, immer auf der Suche nach einem Detail, dem man ein Lachen abgewinnen konnte. So stellte Chen ihn sich vor, auch jetzt, während er den richtigen Knopf herumdrehte, das batteriebetriebene Radio klickte und ihm die Stimme von Ray Charles sanft entgegen flüsterte. Es musste eine wahrlich einzigartige Frau sein, die er da besang. Hallelujah I just love her so. Bis ans Ende würde sie ihn lieben. Bis ans Ende.
Warum hatte er heute überlebt? Der Suicidal hatte es ernst gemeint. Alle beide hatten es ernst gemeint. Und alle beide waren tot. Und was machte es für einen Unterschied? Keinen. Es wäre immer noch dieselbe Welt. Und in der Welt gab es nur ihn, seinen Wald, Stan und Ray. Mit diesem Gedanken schlief er ein.
Chen wachte auf. Seine Augen waren verklebt und die Schlafkörnchen fühlten sich an wie übergroße Brocken, die an seinen Wimpern spitzkantig anhafteten. Vorsichtig fuhr er die Lieder mit dem Fingernagel ab, um sich vom kristallisierten Wasser zu befreien, das sich vor allem am Tränenpunkt hartnäckig festgesetzt hatte. Doch es war ein guter Morgen. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit war er nicht vom Hunger aufgewacht und auch nicht von Träumen über Suicidals, die ihm nachgejagt wären, oder von Gesprächen mit seiner Schwester, die ihn gar noch mehr gefoltert hätten. In Träumen waren es vor allem die schönen Dinge, die grausam waren, das hatte er gelernt, oder besser: Nicht das Träumen war der Ursprung der Grausamkeit, sondern das Aufwachen, das Herausreißen aus einer Realität, die nicht die Seine war, sondern nur pure Fantasie.
Manchmal ließ es ihn tagelang nicht los, wenn er seine Schwester gesehen hatte, wie sie mit ihm zusammen einen Tag am See verbrachte und herumalberte, Gelegenheiten, die er früher zwar genoss, aber aus heutiger Sicht viel zu wenig wertgeschätzt hatte. In ihrer Gegenwart war es für Chen immer einfach gewesen, denn bei ihm hielt sie sich nicht zurück, erblühte zu einer frechen, fast schon lauten Frau, niemals auf den Mund gefallen, der Humor zuweilen staubtrocken, gestochen scharf, jemand, mit dem man gerne Zeit verbrachte und sich nicht ständig fragte, ob das Gesagte richtig oder falsch sein könnte, denn es war immer richtig und niemals falsch.
Als es passierte, war sie Studentin, wenn auch erst seit knapp zwei Jahren, denn Aya war drei Jahre jünger als Chen. Während er sich anzog, dachte er daran, wie sie sich früher auch bitterböse streiten konnten, vor allem als sie noch Kinder waren. Einmal hatte er sie geschlagen und sein Vater hatte es daraufhin mit ihm gleichgetan. Doch dauerte es immer nur wenige Stunden und es war wieder wie zuvor, er war wieder der große Bruder und sie die kleine Schwester. Vielleicht hatte sie es irgendwie geschafft. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht.
Nur mit einem Handtuch bekleidet trat er aus der Hütte heraus. Es war weniger kühl und nicht so früh wie am Tag zuvor. Die Sonne musste bereits zwei bis drei Fingerbreit über dem Horizont stehen. Weiße Lichtsäulen glitzerten schräg über den Waldboden, eben dort, wo die Baumkronen einen Blick gen Himmel zuließen. Chen lief um die Hütte herum und die kleine Anhöhe dahinter hinauf. Der Boden war feucht von der Nacht, abgestorbene Blätter blieben an seinen Füßen kleben und fühlten sich glitschig-schmierig an. Er hüpfte über einen der kleinsten Flüsse seines Waldes namens Elster, um zu einem der größten und reißendsten zu gelangen, dem Ichitaka. In Wahrheit war er, wie die anderen auch, nur ein kleines Bächlein, doch waren seine Ufer so weit auseinander, dass man schon großen Anlauf nehmen musste, wenn man trockenen Fußes hinüberspringen wollte. Außerdem lag er nicht einfach so da, sondern plätscherte fröhlich vor sich hin und verursachte dabei ein Geräusch, das zum Träumen einlud, zum Abdriften in Gedanken, die weder schwer noch wichtig waren, die sich um krumme Äste oder besonders grünes Moos drehten oder um kleine Tierchen oder um etwas anderes Belangloses.
Auf zwei dünnen Baumstämmen, die Chen parallel über den Fluss gelegt hatte, verrichtete er seine Notdurft. Ein paar Meter weiter den Ichitaka hinauf wusch er sich und putzte sich die Zähne mit der neuen Zahnpasta. Es war wunderbar. Nach so langer Zeit durfte er endlich wieder Minze schmecken, riechen, schlucken. Er hatte sich ewig nicht mehr wirklich sauber gefühlt und sich gefragt, woran das wohl lag. Jetzt hatte er die Antwort darauf. Die sanfte Schärfe benetzte seine Zunge und sein Zahnfleisch und er war so glücklich wie lange nicht mehr. Er wollte jubeln, doch kam er sich etwas albern vor, derart fröhlich zu sein wegen einfacher Zahnpasta.
„Aber rasieren könnte ich mich wieder mal“, bemerkte er und betrachtete dabei sein behaartes Gemächt. Es war ein Geheimnis gewesen, das er bei sich trug und das früher oft schwer auf seiner Seele lastete. Ihm war es aufgefallen, als er sich das erste Mal erotische Filme angesehen hatte. Er war nicht zufrieden mit der Länge seines Geschlechts und immer in der Furcht, eine Frau könnte ihn um dieses Umstandes Willen niemals wollen. Er hatte keine Beziehung gehabt und nur einmal mit einer Frau geschlafen. Es war eine Prostituierte gewesen und niemand wusste davon. Er hatte sie selbst kontaktiert und bezahlt, weil er keine Jungfrau mehr sein wollte. Bei einer Frau war es ein Zeichen von Reinheit, bei einem Mann ein Zeichen von Schwäche. Die Prostituierte hatte ihm während des ganzen Aktes über Lügen in das Ohr geflüstert, davon war Chen überzeugt, doch zumindest war er hinterher frei von der Bürde des ersten Mals. Seine Furcht war gleich geblieben und das Geheimnis fest in ihm verschlossen. Wenn er für irgendetwas dankbar hätte sein müssen in dieser neuen Zeit, dann war es, dass ihn dieses Geheimnis nicht mehr allzu sehr beschäftigte. Denn er war allein und Erotik-Filme gab es nicht mehr.
Chen putzte sich noch ein weiteres Mal die Zähne. Zwar drückte ihn der Gedanke, erneut etwas von der Paste aus der Tube zu nehmen, denn sie würde so schneller zur Neige gehen und dann war es eher vorbei mit dem Gefühl der Reinheit, aber an jenem Tag konnte er nicht genug davon kriegen und der Wunsch nach mehr übertrumpfte den Gedanken der Sparsamkeit. Als er in langsamen Kreisbewegungen die Bürste über seine Zähne wandern ließ, grinste und hoch zum Himmel blickte, sah er es zum ersten Mal.
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