1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 „Dominique, hallo, kannst du mich hören?“
„Hallo?“
„Hallo, Dominique, ich bin Chen. Von der Shima Shinbun, der Chen, der Neue, du…“
„Oh mein Gott, Chen, du lebst, ich fass’ es nicht, du lebst wirklich, oh mein Gott, du…“ Dann brach Dominique in Tränen aus. Das Schluchzen war so laut, dass Chen das Handy eine Handbreit vom Ohr entfernt halten musste. Er wusste überhaupt nicht mit der Situation umzugehen, was gesagt werden sollte oder was man tun könnte, um dem Fluss aus Tränen ein Ende zu bereiten. Dann dachte er an seine Schwester und musste sich schnell auf die Stelle beißen, wo der Daumen an der Hand ansetzte, denn auch ihm stieg es hoch und füllte seine Augen.
Mit Dominique und einem weiteren Redakteur namens Shigeru recherchierte Chen weiter. Er kontaktierte Gideon via Mail, weil das internationale Telefonnetz zusammengebrochen war. Die Lage schien weltweit die Gleiche zu sein. Gideon war in ein Labor geflohen, das noch innerhalb der Stadtgrenzen lag. Er schrieb in Angst und Misstrauen, denn die Einzigen, die sich noch in den Städten herumtrieben, waren Scharen der Suicidals, auf der Suche nach Menschen, die sie mitreißen konnten. Gideon hielt sich versteckt und forschte weiter – sie vereinbarten, in engem Kontakt zu bleiben. Am selben Abend veröffentlichte Chen zusammen mit den anderen beiden einen Online-Artikel über den ‚Helden aus New York‘.
Mit Freude stellte er in den nächsten Tagen fest, dass auch viele Radiostationen ihre Arbeit wieder aufnahmen. Der Funk etablierte sich zum sichersten Kommunikationsmittel und wurde alsbald auch von den Regierungen genutzt. Hierüber wurde kommuniziert, wie es gelingen sollte, dass die Menschen einkaufen gehen können, nämlich durch ein Zeitplansystem, bei dem immer nur der Ladenbesitzer und der Einkäufer im Laden waren, zur vorgeschriebenen Zeit und mit vernünftigem Sicherheitsabstand. Außerdem wurden darüber die nötigsten Lieferketten organisiert und es wurde gewährleistet, dass überhaupt noch etwas zum Kaufen da war. Doch blieb auch die Gegenseite nicht untätig. Anhänger der Suicidals stiegen zahlenmäßig an. Sie warben über das Internet und vereinzelte Radiostationen, die sie ‚erobert‘ hatten. In diesen Tagen hielten sie ihre Anhänger dazu an, nicht andere Suicidals in den Tod zu reißen. Sie wären dazu bestimmt, dem Lauf der Dinge Folge zu leisten. Zwei Suicidals können gemeinsam vier Leben beenden. Wenn sie sich gegenseitig auslöschten, waren es nur zwei. Dieser Gedanke war so pervers, dass Chen noch heute schlecht dabei wurde. Übergeben wollte er sich bei dem Gedanken, bei wie vielen diese Ideologie auf freundliches Gehör gestoßen war.
Chen legte das Bild seiner Schwester zur Seite, denn es tat ihm weh, sie anzusehen. Damit war er beim letzten Blatt Papier aus dem gelben Schuhkarton angekommen. Es war ein Notizzettel, den er geschrieben hatte in jener Nacht, in der die Welt untergegangen war. Gideon hatte ihm am Morgen gemailt. Der Betreff lautete: VIRUS!!!!!
Lieber Chen,
Es ist ein Virus. Es ist doch ein Virus. Es verhält sich anders als alles andere, was ich bisher gesehen habe. Sehr untypisch. Im Grunde erinnert das Muster eher an einen Parasiten, aber es ist bestimmt ein Virus. Wie er sich überträgt und was das mit der Nähe zu Mitmenschen zu tun hat, konnte ich noch nicht entschlüsseln. Ich hoffe ich habe die Zeit, eine Therapie zu finden.
Es ist schlimmer geworden hier. Sehr viel schlimmer. Es gibt Berichte, dass sich Menschen jetzt gar nicht mehr nähern können, ohne zu sterben. Mir wurde von einem Kollegen an der Ostküste empfohlen, nun doch aufs Land zu fliehen. Irgendetwas scheint da passiert zu sein. Doch ich bleibe hier! Ich werde weitermachen. Wir schaffen das!
Liebe Grüße,
Dr. Markus Gideon.
Der Zenit nahte, ohne dass Chen ihn hatte kommen sehen. Gideon versteckte in seiner Mail zwar eine Warnung, doch Chen schenkte dieser keinerlei Beachtung, genauso wenig wie der Doktor selbst. Beide waren geblendet von der Euphorie über die neue Erkenntnis und dem Hauch von Hoffnung, den sie mit sich brachte. Es geschah während des Regens, als der Himmel so grau war wie die trüben Augäpfel einer erblindeten Alten. Als die Radiostationen davon berichteten, war es schon zu spät. Chen packte damals in großer Not Dinge in seinen Backpack, die er zum Überleben brauchen würde. Zahnbürsten, Zahnpasta, die Isomatte, Proteinriegel und Wasser. In panischer Eile vergaß er viele Dinge wie den Laptop oder sein Arbeitshandy von der Shima Shinbun.
Die Ersten waren bereits am frühen Abend tot. Der Rest folgte über Nacht. Der Radius hatte sich auf mindestens zehn Meter vergrößert. Mütter, Kinder, Männer, Frauen, Säufer, Flegel, Diebe und Priester; sie alle starben wie Ungeziefer. Chen hatte sich das Auto seiner Großeltern zu eigen gemacht und war losgefahren. Auf dem Weg sah er unbeschreibliche Dinge. Panik ließ die Menschen erblinden. Suicidals, die anderen nachjagten. Tote Körper, die vom Regen aufgequollen waren und aussahen wie Schwämme. Hysterisch kreischende Kinder, allein und durchnässt, die im nächsten Moment vornüberkippten und ohne erkennbaren Grund mit dem Gesicht auf dem dunklen Teer liegen blieben. Verzweifelte Hilferufe, die ertönten und noch im Schreien wieder verstummten. Es grenzte an ein Wunder, dass er es geschafft hatte. Sein Vater sollte am Ende doch Recht behalten. Die Hütte war der einzig sichere Ort. Und er war töricht gewesen, nicht sofort dorthin zu flüchten.
Chen blickte vom Notizzettel auf und ließ seinen Blick über die dunkelbraunen Dielen gleiten. Das Orange der Petroleumlampe verlieh dem Holz einen erhabenen Schein, wie es sonst nur allerfeinstes Mahagoni besaß. Sein Vater war mit ihm oft hergefahren. Zusammen verbachten sie die Wochenenden im Wald, der Vater allein mit seinem Sohn, zwei Generationen, umgeben von Bäumen und Tieren. Er lehrte ihn, in der Natur zu überleben, welche Kräuter ihm bei Verletzungen am Auge halfen und welche er bei Durchfall verwenden konnte, um nicht an Gewicht zu verlieren. Sein Vater hatte ihm damit unbewusst das Leben gerettet. Denn ohne sein Wissen hätte er die Jahre im Wald nicht überstehen können. Wo war sein Vater, Hashirama Hyuga, jetzt? Er stellte sich diese Frage jeden Tag, obwohl ihm die Antwort dabei stets auf die Schulter tippte. Nie drehte er sich um. Nie sah er ihr in das hässlich-stinkende Antlitz. Er würde es schon geschafft haben. Er kannte ihn. Er war zäh. Ein Mann alter Schule. Er hatte gedient, als Zugführer bei der Kraftfahrer-Kompanie.
„Ein Motor reicht ihm. Er bewegt dir alles überall hin“, erzählte einmal einer von Hashiramas Freunden namens Yuma euphorisch und leicht beschwipst, nachdem er mit ihm von der wöchentlichen Schrauberei in einer gemeinsam angemieteten Hobby-Garage zurückkam. Wenn er, Chen, es geschafft hatte, dann würde es für ihn ein Leichtes sein! Doch täglich tippte ihm die Antwort wieder auf die Schulter und jedes Mal musste er lange mit sich selbst reden oder mit Ashoka oder mit dem Milan, um sich nicht doch aus Versehen umzudrehen.
Genug davon. Genug war es für einen Tag. Oder zu viel. Viel zu viel! Er sperrte die Sachen zurück in den kleinen Karton und stellte ihn in den Schrank. Er löschte das Licht der Lampe und fummelte in der Dunkelheit an den Knöpfen des kleinen, faustgroßen Radios herum, das neben der Isomatte am Boden lag. Um diese Uhrzeit würde er nicht mehr reden, nur noch Musik spielen. Die Radiostationen waren die letzten sendefähigen Überbleibsel einer einst dominierenden Rasse. Nur die Kleinen hatten überlebt. Die, die schon zuvor von Einzelnen betrieben wurden. Viele waren von Suicidals übernommen worden. Über den Funk versprühten sie ihren Hass, gehüllt in einen Umhang aus Hoffnung und Nächstenliebe. Doch nicht so Stan. „Der Große Stan, Shogun der Neuzeit“, wie er sich jedes Mal aufs Neue über das Mikrophon vorstellte, sendete noch regelmäßig. Weiß Gott, wie er an die Informationen rankam, die er jeden Abend verkündete. Vielleicht waren sie auch alle nur erfunden. Chen wäre es egal gewesen. Er lauschte Stan fast täglich, fieberte ihm entgegen, gespannt wie ein Kind am Weihnachtsabend. Die Stimme eines anderen Menschen zu hören – es war wie ein Zauber, den man nur verstand, wenn man die Einsamkeit kannte. Er liebte Stan, die Art und Weise wie er redete, seine Worte, stets in Hast gesprochen, so als müsste er gleich weiter zu einem wichtigen Termin. Sein Lispeln war der kleine Makel, der es vollkommen machte, wie Sommersprossen auf dem Gesicht der schönsten Frau der Welt. Stan hatte ihn so oft schon zum Lachen gebracht, und das, obwohl er meistens über das Leid sprach, das sie alle teilten:
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