Eines Tages ‑ Thutmosis hatte gerade wieder einmal wegen einer Nichtigkeit einen seiner Wutanfälle bekommen, bei dem er die Papyri durch die Schreibstube schmiss und schließlich seinen Unmut herausbrüllend den Raum verließ ‑, schob Mentuhotep schweigend ein Dossier über den Tisch. Ani erschrak, beschäftigte sich das Dokument doch mit der Person des Thronfolgers. „Er hat es eben erst entdeckt und wohl auch einen Blick hineingeworfen“, flüsterte ihm Mentuhotep zu. Und als er den Schreck seines Schülers bemerkte, meinte er nur beiläufig: „Solch eine Akte hat Pharao über jeden von uns anlegen lassen.“ Und als er das Entsetzen in Ani Gesicht sah, fügte er beruhigend hinzu: „Sogar über sich selbst lässt der Gute Gott eine solche Kladde führen. Hilft sie ihm doch, zu überprüfen, wie seine Taten von außen wahrgenommen werden.“ Nur kurz blickte Ani in das vor ihm liegende Dokument, doch es genügte, um die Verstimmung des Kronprinzen zu verstehen. Das Wort „unfähig“ tauchte öfters darin auf und war mit Rot unterstrichen. Als Schlussbemerkung stand der unheilvolle Satz: „Eine schwache Führung ist zu erwarten, die hoffentlich durch seine Große Königliche Gemahlin Nofretete ausgeglichen werden kann.“ Schnell rollte Ani den Papyrus wieder auf und schob ihn Mentuhotep zu, der ihn augenblicklich in eine Truhe legte, die er sorgfältig abschloss. „Dies alles ist eigentlich nur für die Augen Pharaos gedacht“, klopfte Mentuhotep auf die Truhe.
„Und warum zeigst du es mir dann?“ Ani war entrüstet, wie ihn sein Lehrer in diese Lage hatte bringen können. Denn die in diesen Aufzeichnungen gebannten Worte waren nun losgelassen und vergifteten Anis Hirn.
„Pharao selbst wies mich an, solches zu tun“, erklärte sich Mentuhotep.
„Und jetzt sag mir nur noch“, meinte Ani entrüstet, „dass der Gute Gott wollte, dass auch Thutmosis dies liest.“
Mentuhotep nickte nur stumm.
Offenbar hatte Pharao erwartet, dass Thutmosis sich etwas mehr bemühen würde, wenn man ihn erst einmal wissen ließ, wie wenig man ihm tatsächlich zutraute. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Thutmosis wurde nur noch verstockter und zog sich immer mehr zurück. Das Schlimmste war jedoch, dass er nun jedermann in seiner Umgebung Misstrauen entgegenbrachte. Seine Schwestern, sein Bruder, ja, selbst seine Mutter und Großmutter machten da keine Ausnahme. Wie ein getretener Straßenköter schnappte er nach jeder Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Nofretete reichte sie ihm oft genug, denn sie empfand es tatsächlich als ihre Bestimmung, dem nächsten König Ägyptens bedingungslos zur Seite zu stehen. Doch der verschreckte Thutmosis misstraute auch ihr, der wohl einzigen Person, überlegte Ani, die noch bereit war, ihm ihre volle Loyalität zu schenken. In der Dienerschaft wurden schon die ersten Befürchtungen ausgetauscht, was alles man wohl unter der Herrschaft des fünften Thutmosis zu erwarten hätte. Ani fasste es mit drei schlichten Worten zusammen: Angst, Terror und Blut.
Endlich war der erste Tag des Opet-Festes gekommen. Es dauerte insgesamt elf Tage und war das wichtigste Fest des ganzen Reiches. Am gegenüberliegenden Nilufer war Waset, die sowieso schon größte und mächtigste Stadt der Welt, von Tag zu Tag zu einem alles verschlingenden Ungeheuer herangewachsen. Über Meilen zogen sich nördlich und südlich der Hauptstadt die Lager der Pilger am Ufer des Nils entlang. Tausende und Abertausende von Menschen wollten mit Wasser und Nahrung versorgt sein. Und da im weiten Umkreis von Waset kein Baum und kein Strauch mehr zu finden war, stellte alleine das Bereitstellen von Brennmaterial eine enorme Herausforderung dar. Man brauchte Ärzte und Priester, Bewaffnete und schließlich auch Beamte, welche die korrekte Abwicklung der in Waset reichlich getätigten Geschäfte kontrollierten. Wie gern geriet in diesen Tagen ein Handelsgewicht etwas zu leicht oder eine Elle zum Ausmessen der Stoffbahnen etwas zu kurz. Für die Stadt und ihre Bewohner ‑ und somit auch für Pharao, der in jener Zeit für Waset eine Sondersteuer erhob ‑ war das Opet-Fest als einträglichstes Geschäft des Jahres eine Zeit des Erntens. In Feierlaune waren viele der Festbesucher nur allzu bereit, das Ersparte eines ganzen Jahres auszugeben. Und dies betraf keineswegs nur die unteren Schichten. Die Elite des ganzen Landes fiel wie ein Schwarm Stare über die Stadt herein – und wurde dennoch sehnsüchtig erwartet. Wer nicht bei Freunden, Bekannten oder Verwandten unterkommen konnte, musste wohl oder übel die unverschämten Preise zahlen, die für eine Einmietung gefordert wurden - so er denn nicht am Ufer des Nils campieren wollte. Hinzu kamen natürlich noch all die Menschen, die hofften, in Waset ein gutes Geschäft machen zu können. Und so war die Stadt voll von Händlern, Marktschreiern, Musikern, Akrobaten, Prostituierten und Priestern, Priestern und nochmals Priestern.
Ani war heilfroh, dass er nichts mit der eigentlichen Organisation des Festes zu tun hatte. Ihm genügte die Auseinandersetzung mit den schmutzigen, kleinen Geheimnissen der Fürsten des Landes, deren Dossiers er inzwischen nahezu auswendig kannte. Das eigentliche Opet-Fest selbst war eher der Volksfrömmigkeit geschuldet. Konnten doch die Gläubigen anlässlich der Prozession ihren Göttern so nah sein wie nie. Denn die blieben während des ganzen Jahres in ihren finsteren Tempeln verborgen. In goldenen Sänftenbarken wurden Amun, Mut und deren Sohn Chons aus ihren Tempeln in Karnak geholt, freilich vollkommen verschleiert, so dass alle glauben sollten, die leibhaftigen Götter säßen höchstselbst in den Sänften und keine steinernen Standbilder. Sie wurden auf Schiffe verladen, die sie in Begleitung der königlichen Familie das kurze Stück von Karnak nach Waset brachten. Vorbei an Tausenden von jubelnden Menschen, den Ärmsten der Armen, denen Pharao Brot und Bier im Überfluss schenkte. Der Gute Gott brach ein einziges Brot und leerte einen einzigen Krug Bier in den Nil und doch wurden alle satt und zufrieden.
Die begehrtesten Plätze entlang des Prozessionsverlaufs waren allerdings jene in Waset selbst. Für einen Fensterplatz, unter dem der Zug direkt vorbei führte, musste man schon ein kleines Vermögen aufbieten. Am Hafen wurden die Sänften schließlich ausgeladen und in einer stundenlangen Prozession in den südlichen Harem des Amun getragen. All dies geschah unter einem derartigen Geschrei und Jubel, dass Ani mehr als einmal angst und bange wurde. Amenhotep war ausgesprochen schlecht gelaunt. Vielleicht weil er die Begeisterung der Massen für Amun miterleben musste, der ja nichts weiter war, als ein billiges Stück schwarzen Steins, was er nicht müde wurde, ständig zu wiederholen. Er klagte über die Hitze. Also besorgte ihm Ani einen Fächerträger. Amenhotep jagte ihn sogleich wieder fort, weil der Fächer die Sicht des Volkes auf ihn behinderte. Das Wasser, das Ani ihm in seine Sänfte reichte, war zu warm und schmeckte abgestanden und der Jubel der Menschen war zu laut und schmerzte in seinen Ohren. Mürrisch saß der Gottessohn in seiner Sänfte und sehnte den Abend herbei. Amenhoteps Schwestern hingegen schwatzten ausgelassen in ihren nebeneinander getragenen Sänften und genossen die bewundernden Blicke, die man ihnen schenkte. Es machte ihnen Freude, sich und ihre vollkommene Schönheit dem Volk zu zeigen, das sich augenblicklich darin bestätigt fand, dass nur Menschen göttlicher Abstammung derart schön sein können. Mit stoischer Miene ertrugen Pharao, Teje und Mutemwia die öffentliche Zurschaustellung. Man fiel vor ihnen in den Staub, bedeckte die Gesichter und manch ein Übereifriger verlor sogar seufzend die Besinnung. „Was für ein Rummel!“, schimpfte Amenhotep. „Schiere Volksverdummung!“
Im Tempel angekommen, wurde die Barke Amuns in den so genannten Geburtsraum geschafft, wo die symbolische Vereinigung des Gottes mit der Mutter des Königs im Verborgenen stattfand. Thutmosis machte gerne anzügliche Bemerkungen darüber, die Mutemwia jedes Mal ärgerten, auch wenn sie es nie zugegeben hätte. Dort wurde schließlich der Ka des Pharao wiedergeboren, die Quelle der Lebenskraft, die ihm die Stärke verlieh, für ein weiteres Jahr zu herrschen. Große verborgene Spiegel ließen das Sonnenlicht plötzlich auf den im Dunkel des Tempels stehenden Pharao fallen, so dass das Volk glaubte, tatsächlich Zeuge seiner Epiphanie geworden zu sein, seiner unvermittelten Menschwerdung aus dem neugeborenen Ka. Das Volk jubelte und schrie sich vor Freude die Seele aus dem Leib, denn Pharao würde nun mit erneuerter Kraft weiterhin für sie sorgen können. Tapfer hatte auch Mutemwia alle Rituale über sich ergehen lassen. Doch als sie wieder in ihrer Sänfte Platz nahm, seufzte sie erschöpft: „Kinder, Kinder. Lange kann ich das nicht mehr mitmachen.“
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