Nachdem sie gespeist und anschließend alle Reste im Sand vergraben hatten, war Ani bereit, sich auf den Rückweg zu machen. Die Freunde waren mit zwei Streitwagen gekommen, die sie unbemerkt hinter dem Schlachthaus abgestellt hatten. Natürlich hatte Ani diese pfeilschnellen Gefährte schon oft gesehen und immer ihre elegante Beweglichkeit bestaunt. Gefahren war er allerdings noch nie damit, brauchte es doch einiges an Übung und Erfahrung, um mit diesen schwer zu lenkenden Fahrzeugen umgehen zu können. So manches Mal hatte er Amenhotep gebeten, ihm den Umgang damit beizubringen, erzählte man sich doch, dass er einer der besten Streitwagenlenker des ganzen Reiches war. Doch der hatte wenig Lust, seine beschränkte Zeit, die er auf einem solchen Gefährt verbringen konnte, mit einem unbeholfenen Schüler zu vergeuden. Streitwagenfahren, dass wusste Ani inzwischen, war eine der Lieblingsbeschäftigungen Amenhoteps.
So zuvorkommend wie selten war Thutmosis seiner Braut Nofretete behilflich, als sie seinen Streitwagen bestieg. Ihr Kopf glühte vor Aufregung und Vorfreude. Ein wenig unsicher bat sie ihren Bräutigam, ob er ihr auf der Rückfahrt vielleicht nicht doch die Zügel überlassen würde. Thutmosis überlegte kurz und trat ihr schließlich die Führung ab. „Jetzt“, meinte Amenhotep als Ani zu ihm auf den Wagen geklettert kam, „jetzt mach dich auf was gefasst!“ Und schon zogen die Pferde an ‑ Ani schaffte es kaum, sich festzuhalten ‑ und gingen schnell in einen rasenden Galopp über. Quer durch die Wüste, über Stock und Stein, fuhren sie in Richtung Malqata zurück. Ani fürchtete, ihm könne der Atem wegbleiben, so stark war der Fahrtwind. Doch wider Erwarten gelang es ihm, weiter zu atmen, ja, sogar zu lachen und zu schreien. Krampfhaft hielt er sich an der Brüstung fest und schrie seine Ekstase in den Fahrtwind. „Hurr-ho, hurr-ho!“ Amenhotep lachte, wie Ani ihn schon lange nicht mehr hatte lachen sehen, und schloss sich seinem Kampfruf an. „Hurr-ho, hurr-ho!“ Wie auf Befehl sahen sich beide nach der Dritten im Bunde um, ob sie ihnen denn in ihren Geschwindigkeitsrausch nachfolgen wollte. Doch Nofretete hatte sie längst schon eingeholt und schrie ebenfalls nach Leibeskräften. Erschreckt ließen die Menschen am Wegesrand ihre Arbeit ruhen und blickten nach der brüllenden Horde hin, die eine Wolke aus Steinen und Staub hinter sich ließ, die immer größer wurde und alsbald bis in den Himmel reichte. Manche fielen nieder und flehten inständig, dass Gott Seth ‑ denn nur um ihn konnte es sich handeln – ihr Leben und das der Ihren verschonen möge. Manche konnten erkennen, dass einer der beiden Streitwagen von einer jungen Frau geführt wurde. Dies musste Nephthys sein, die Gemahlin des Gottes aus der Wüste. Und kamen sie nicht auch geradewegs von dort? Aus dem Westen, wo die Gräber in die Felsen geschlagen waren? Doch so schnell sie aufgetaucht waren, so schnell waren sie auch wieder hinter ihrer staubigen Wolke verschwunden, die noch lange die Luft erfüllte.
Je näher sie dem Palast kamen, desto banger stellte sich Ani die Frage, wie sie denn aus dieser rasenden Fahrt wieder zum Stehen kommen sollten. Insbesondere weil weder Amenhotep noch Nofretete irgendwelche Anstalten machten, ihre Gefährte zu verlangsamen. Als sie in den rückwärtigen, vom Militär genutzten großen Hof einfuhren, der vom eigentlichen Palast abgetrennt war, sah sich Ani schon an der nächsten Mauer zerschmettert. Doch Amenhotep leitete eine scharfe Kurve ein und gab Ani Anweisung, sich aus dem Wagen zu lehnen, um den Fliehkräften entgegenzuwirken. Nofretete mit Thutmosis an Bord tat das gleiche, so dass sie schließlich ihre Fahrt in einem weiten eleganten Bogen beendeten.
Die Soldaten applaudierten begeistert. Wie stolz waren sie auf ihren künftigen König, dessen Braut einen Streitwagen zu lenken wusste, wie der beste Fahrer aus ihren Reihen. Ani erwachte wie aus einem Rausch und schwor sich felsenfest, zur Not auch ohne Amenhoteps Unterstützung, diese Kunst zu erlernen. Denn es war eindeutig eine Kunst, solch ein leichtes Wägelchen und auch noch die beiden Rösser, den eigenen Wünschen folgen zu lassen. Nofretete sah Anis verzücktes Gesicht und flüsterte ihm schnell ins Ohr: „Ich bring’s dir bei!“ Verdutzt blieb er stehen, während Nofretete an der Seite ihres zukünftigen Gemahls durch die Pforte zum Inneren des Palastes ging. Dort hatte sie noch einmal Gelegenheit, sich nach Ani umzudrehen und ihm wie zur Bestätigung kurz zuzunicken.
Gerade als die Sonne den Horizont im Westen berührte, betrat ‑ nach entsprechender Ankündigung durch Rechmire ‑ Prinz Amenhotep mit dem Freund des Gottessohnes die Terrasse des Pharao. Er küsste seinem Vater die Hand, woraufhin Teje ihn anzischte und meinte, er solle sich seine Honneurs für später aufheben. Mit dem Kopf deutete sie auf Mutemwia, neben der ein Schemel für ihn bereitstand. Die Mutter des Guten Gottes saß hinter einer Harfe und wollte offenbar gerade ein Lied anstimmen. „Oh, Amenhotep, mein Liebling. Setz dich zu mir. Ich habe gerade erzählt, dass ich euch allen ein neues Lied aus Achmim mitgebracht habe.“ Dabei sah sie in die Runde und vergaß dabei nicht, auch Ani ins Gesicht zu sehen. Er wusste, dass sie früher einmal die Oberste Sängerin des Min war und ihre Kunst im ganzen Land gerühmt wurde. Mit ihrer warmen, wenn auch schon ein wenig brüchigen Stimme, der man anhörte, dass ihre Besitzerin ein langes, reiches Leben gelebt hatte, sang sie in die hereinbrechende Nacht.
Wo sind sie hin, die einstmals Tempel bauten?
Was ist mit ihnen geschehen?
Wo sind ihre Stätten? Sie mussten vergehen
als wären sie niemals gewesen.
Niemand kommt von dort, wo sie jetzt sind,
um uns von ihrem Ergehen zu berichten.
Und um unser banges Herz zu beruhigen,
bis auch wir gelangen, wohin sie längst gegangen sind.
Feiere den schönen Tag, werde dessen nicht müde.
Denn bedenke:
Niemand nimmt dereinst mit sich, woran er gehangen.
Niemand kehrt wieder, der einmal gegangen.
Du aber, erfreue dein Herz und denk nicht daran!
Und lass es dich leiten, solange du bist.
Tu Myrrhen aufs Haupt und nutze die Frist.
Trag weißes Leinen und salb dich mit Öl.
Sei schön! Und lerne, dich selbst zu lieben.
Folg nur dem Herzen mit deiner Geliebten.
Tu deine Dinge auf Erden, lass Vollendung sie krönen.
Verletze dein Herz nicht, bis am Tage der Totenklage
die Tränen strömen.
Feiere den schönen Tag, werde dessen nicht müde.
Denn bedenke:
Niemand nimmt dereinst mit sich, woran er gehangen.
Niemand kehrt wieder, der einmal gegangen.
Es war vollkommen still als Mutemwia geendet hatte. Und nachdem auch der allerletzte Ton im Abendrot verklungen war, rief sie vergnügt: „So, liebe Kinder! Nun lasst uns den schönen Tag feiern!“ Augenblicklich wurde begeistert applaudiert und über die neuartigen Verse gesprochen, die das irdische Leben derart priesen, war es doch ansonsten vor allem das Jenseits, welches die Sänger mit ihrer Kunst bedachten. Es hob eine lebhafte Unterhaltung darüber an, ob dieser Aufruf, sein diesseitiges Leben in vollen Zügen zu genießen, nicht doch auch zu amoralischem Verhalten führen könnte. Sit-amun wollte zunächst einmal grundsätzlich wissen, wer überhaupt die Grenzen zur Amoral ziehen soll. Die Amun-Priester oder der Pharao? Seit Ani erfahren hatte, dass der stets schweigsam hinter ihr Sitzende niemand anderes war, als Amenhotep, der Sohn des Hapu, der große Architekt des Guten Gottes, der neuerdings auch zu Sit-amuns Vermögensverwalter ernannt worden war, fiel ihm immer häufiger auf, dass Sit-amun gerne gegen allzu eng gesetzte Grenzen der Moral anredete. Gab es doch Gerüchte, wonach die älteste Tochter Pharaos und der geniale Architekt auch das Bett miteinander teilten. Der Sohn des Hapu war zwar mindestens ein Vierteljahrhundert älter als die gerade einmal zwanzigjährige Sit-amun, aber auch Anis Eltern waren in ihrem Alter weit auseinander gewesen, so dass er dies zunächst nicht als übermäßig bemerkenswert empfand. In der Dienerschaft allerdings wurde der Altersunterschied als Beweis dafür gesehen, dass der Sohn des Hapu die Königstochter verhext haben müsse. Thutmosis, der sich ansonsten immer schwer tat, eine Meinung zu haben, war aufrichtig begeistert von dem neuen Lied und rief immer wieder: „Endlich mal jemand, der’s ausspricht! Endlich mal einer, der sagt wie’s ist!“ So war es ein anregender Abend mit lebhaften Gesprächen, die allerdings oft genug von Mutnedjmet unterbrochen wurden. Ihr Zwerg hatte inzwischen das Tanzen gelernt und seine Besitzerin wurde nicht müde, ihn mit rollenden Augen zwischen den Gästen umhertanzen zu lassen, nur, um sich anschließend bei den solcherart Behüpften zu erkundigen, ob ihnen die Darbietung denn auch gefallen habe. Wehe, man zeigte sich nicht enthusiasmiert oder zumindest angetan, dann wurde der arme Däumling erneut herbeizitiert und mit einem Klaps auf den Kopf aufgefordert, seine Verrenkungen abermals vorzuführen. Isis und Henut-tau-nebu machten sich einen Spaß daraus, ständig neue Kritikpunkte vorzubringen und den Kleinen immer wieder aufs Neue seine grotesken Tänze vollführen zu lassen.
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