Dort am Bach die Trauerweide, unter deren dicht herabhängenden Zweigen sie auf Zirrkan gewartet hatte … Wie einst ließ sie sich unter dem Blätterzelt nieder, sah durch den grünen, wispernden Vorhang.
Sie hörte Schritte im Wald. Viele Schritte. Dann traten Menschen zwischen den Bäumen heraus. In tiefem Schweigen gingen sie, schwarze Schemen gegen das rötliche Licht, Männer zunächst, Männer mit bärtigen Gesichtern, wehenden Haaren und schrecklichen Wolfsschädeln auf ihren Köpfen, Wolfsfell auf ihren Schultern, darüber Langbogen und Köcher, dann Frauen, gebückt unter hoch aufgepackten Rückentragen, eine hinter der anderen, die Hände auf den Rücken gefesselt, mit Stricken aneinandergebunden.
Eine Frau schwankte, blieb stehen, der Zug geriet ins Stocken, schon war einer der Männer neben der Frau, schlug sie, ein anderer drohte ihr mit erhobener Axt, die Frau taumelte weiter. Die Frauen zogen auf dem Pfad an der Trauerweide vorbei, aneinandergefesselt, von den Männern getrieben wie Vieh, Haibes Augen noch immer geblendet, noch immer konnte sie niemanden erkennen, doch da, nicht weit von ihr entfernt, war das nicht Kugeni, Zirrkans Schwester? Plötzlich war sie hinter Kugeni, legte ihr die Hand auf die Schulter.
Kugeni drehte sich um, sah sie aus verstörten Augen an.
Es war nicht Kugeni. Es war Naki.
»Naki!«, schrie Haibe. Dann brach sie in tiefer Bewusstlosigkeit zusammen.
Feuer glühte in ihrem Leib. Sie tastete sich ab, fühlte Knochen und darüber Haut wie trockenes, heißes Gras. Qualvoll schrie jede Faser ihres Körpers nach Wasser. Alle Feuer ihres Lebens wüteten in ihr, vereinten sich zu einer alles verzehrenden Glut.
Wasser – Wasser –
Wenn Taku das Grab öffnete, würde er ihr etwas zu trinken bringen …
Musste nicht längst Abend sein? Einmal noch nahm sie ihre Kräfte zusammen, bäumte sich auf in verzweifelter Willensanstrengung. Sie durchforschte die Finsternis, drehte sich nach allen Seiten, suchte mit brennenden Blicken nach dem schmalen Lichtstreifen und dem hellen, tröstenden Dreieck, fand es nicht. Ihr Verstand weigerte sich zu begreifen, was das bedeutete: Es war Nacht.
»Taku«, flüsterte sie tonlos, ihre Stimme nur noch ein trockenes Kratzen, »am vierten Tag bei Sonnenuntergang, warum bist du nicht gekommen, du bringst mich um, warum, Taku, warum …«
Zirrkans Schwester – der Zug der gefesselten Frauen – und Naki –
Die Erkenntnis kam über sie und tötete sie.
Sie schwebte. Schwerelos ruhte sie dicht unter den mächtigen Deckensteinen des Grabgewölbes.
Kein Durst mehr und kein Hunger, kein Brennen und keine Qual. Alles, was blieb, war gelöste Leichtigkeit.
Ihr Blick durchdrang den Stein. Hell sah sie das Morgenlicht im Freien. Im Dunkel des Grabes, zwischen Knochen und Scherben, sah sie sich selbst. Leblos lag sie dort unten, merkwürdig verkrümmt und eingefallen, spitz stachen die Knochen aus der fahlen, vertrockneten Haut.
Was mache ich dort, warum liege ich am Boden, fragte sie sich mit lächelnder Verwunderung.
Da hörte sie ein schreckliches Knirschen. Schmerzhaft durchdrang es sie, wurde lauter und lauter. Die Steine traten auseinander, öffneten einen schmalen, schwarzen Spalt.
Sie wurde von einer ungeheuren Kraft erfasst, auf diesen Spalt zugesaugt, sie wollte sich wehren – Lasst mich, ich will nicht, ich muss bei meinem Körper bleiben! – umsonst, näherte sich unerbittlich diesem Spalt, wurde hineingezogen, hineingepresst, ein schmaler, finsterer Höhlengang, kaum passte sie hindurch, wusste plötzlich: Dies war der Weg, den sie gekommen war, nun ging sie ihn zurück, kein Sträuben half, zurück, zurück –
Und Freiheit – Weite – Licht.
Das Licht, heller noch als die Sonne, umfing sie mit glänzendem Schein, umschmiegte sie wie weiches, warmes Wasser und blendete nicht.
Sie sah nichts als dieses Licht, und doch wusste sie mit unerschütterlicher Gewissheit: Sie war in dem Licht, Sie war es selbst, die Eine, die Drei war in Eins und Eins in Drei.
Gestalten kamen aus dem Licht auf sie zu, sie hatten keinen menschlichen Körper, und doch erkannte sie sie sofort: ihre Mutter, Tante Kjolje, ihr Großer Oheim. Strahlend kamen sie ihr entgegen.
Freude und Ruhe umströmten sie. Sie bewegten ihre Lippen nicht, und doch sprachen sie zu ihr: Komm mit uns, Haibe, fürchte dich nicht, wir führen dich, wir geleiten dich, dein Schmerz hat ein Ende, es ist gut, alles gut …
Unwiderstehlich war der Wunsch, bei ihnen zu bleiben, tiefer in das Licht hineinzugehen. Sie folgte ihnen.
Neue Gestalten tauchten auf, unsicherer als die anderen, Suchende beinahe noch wie sie selbst, und doch auch sie voll heiterem Frieden: ihre beiden Vettern, ihre Söhne Wirrkon, Karu und der kleine Rablu, ihre Brüder Li und Aktoll und dort Taku und die anderen Männer der Koa. Sie eilte ihnen entgegen, glücklich, sie alle zu sehen, heil bei sich zu wissen. Aber da war etwas, was sie zurückhielt.
Sie formte den Gedanken, sie musste ihn nicht aussprechen, sie wusste, dass die anderen ihn hörten: Was ist mit Naki?
Mitleid legte sich wie ein Schleier über die Gesichter: Naki ist noch nicht berufen.
Da war das Bild wieder da: Naki im Zug der gefangenen Frauen, gefesselt, gebeugt unter der schweren Last …
Ich muss zu Naki, schrie sie stimmlos in das Licht, ich bitte dich, Große Göttin, versteh, dass ich nicht bleiben kann, sosehr ich es mir wünschte, schick mich noch einmal zurück, bitte, ich muss Naki helfen …
»Haibe! Komm zurück! Du darfst nicht tot sein, nach allen anderen nicht auch noch du! Ich brauche dich! Trink das, ich flehe dich an, trink!«
Ihr Körper war eine flammende Qual.
»Große Bärin, hilf meiner Schwester! Lass mich nicht zu spät gekommen sein!«
Jemand hielt ihren Kopf, träufelte Wasser in ihren Mund, unter grässlicher Anstrengung kämpfte sie gegen den glühenden Schmerz, schluckte das Wasser, trank.
»So ist es gut. Trink weiter, Haibe, trink! O Schwester, meine Schwester!«
»Amros, sag Agala, ich möchte Tee mit Sahne!«
»Ja, Herr!« Morias kleiner Bruder wandte sich gehorsam an die Schwägerin: »Mein Vater möchte Tee mit Sahne!«
Agala kauerte mit gesenktem Kopf an dem niedrigen Tisch vor dem Vater und Krugor und legte ihnen das Fleisch vor. Nun erhob sie sich – sorgfältig achtete sie darauf, dass sie dem Vater nicht das Gesicht zukehrte – und ging zur Tür, nein, sie ging nicht, sie huschte. »Sag deinem Vater, ich bereite den Tee sofort!«, erwiderte sie leise.
»Agala sagt, sie macht ihn sofort«, gab Amrox weiter.
Eine belanglose Begebenheit, die sich von selbst verstand. Und doch war dies der Augenblick, in dem Moria die Erkenntnis mit spitzem Stich traf: Mir wird es ergehen wie Agala. Auch ich werde bald verheiratet. Dann bin ich nicht länger Rösos‘ Tochter in ihrem Vaterhaus. Sondern eine Fremde unter Fremden. Mit einem Schwiegervater, vor dem ich das Gesicht abwenden muss und der mich behandelt, als wäre ich nicht da, einer Schwiegermutter, die mich mit Arbeit überhäuft und mir das Leben schwermacht, und einem Ehemann, der mich …
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