Moria stellte das Brot vor den Vater und den großen Bruder und folgte Agala in den rußgeschwärzten Nebenraum. Agala kauerte an der Feuerstelle, blies in die Glut. Zum ersten Mal bemerkte Moria die Anspannung in Agalas stillem Gesicht, die dunklen Schatten unter ihren Augen. Agala wandte sich zum großen Wassergefäß. Ein Laut des Erschreckens entfuhr ihr. »Es ist kein Wasser mehr da!«
Die Magd, die gewöhnlich das Wasser holte, arbeitete mit der Mutter im Speicher. Und Agala musste auch noch für Sahne sorgen.
In ungewohnter Hilfsbereitschaft sagte Moria: »Ich hol‘ dir schnell welches!« Sie rannte über den Hof, zum Tor hinaus, zum Bach hinüber. Der Vater würde ungeduldig werden und es Agala spüren lassen. Und Krugor würde es nicht in den Sinn kommen, Agala vor der Missbilligung durch den Vater zu schützen.
Krugor kam es überhaupt nie in den Sinn, sich anders um seine junge Frau zu kümmern, als ihr knappe Befehle zu erteilen und sie nachts im Dunkeln rasch und ohne Zärtlichkeit zu nehmen.
Moria wusste es, obwohl sie in der anderen Zimmerecke schlief: Oft genug hatte sie sich in den Wochen seit der Hochzeit des Bruders die Hände an die Ohren gepresst, um Krugors Keuchen nicht zu hören …
Nein, das Keuchen war nicht das Schlimme. Das Schlimme war, dass man von Agala nichts hörte, nicht den geringsten Laut.
Moria bückte sich zum Bach, füllte das Gefäß nur halb, um schneller zurücklaufen zu können. Krugor hatte Agala vor der Hochzeit nie gesehen noch sie ihn. Sie konnten sich ja gar nicht lieben.
Dieser Wolfskrieger auf dem Fest …
Lykos. Mit ihm wäre es anders. Mit ihm ließe sich sogar ein Schwiegervater ertragen und eine Schwiegermutter. Er hatte sie beobachtet, sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Er wollte sie, nur sie, nicht einfach irgendein Mädchen aus guter Familie, wie es Krugors Absicht gewesen war. Wie sie sich angeschaut hatten …
Die Hitze schoss ihr in die Wangen. Wenn sie nur wüsste, ob der König wirklich für ihn bei ihrem Vater um sie werben würde!
Sie rannte. Als sie zurückkam, war auch die Mutter im Raum und bereitete Preiselbeermus für die Nachspeise. Agala hatte das Feuer nachgeschürt, Sahne aus der Vorratsgrube im Hof geholt und die Spanschachtel mit den Lindenblüten bereitgestellt. »Du warst schnell«, sagte sie dankbar, erhitzte ein klein wenig Wasser, brühte den Tee und füllte den Tontopf nach.
Moria presste auf Geheiß der Mutter saure Milch durch ein Tuch. Endlich war der Tee fertig. Agala brachte ihn zu den Männern. Als sie zurückkam, forschte Moria im Gesicht der Schwägerin. »Mach dir nichts draus«, flüsterte sie Agala zu.
Diese blickte sie verwundert an, lächelte dann zaghaft. »Ich hole neues Brennholz, Schwiegermutter«, sagte sie über die Schulter und wandte sich hinaus.
»Und ich helfe dir«, rief Moria und folgte der Schwägerin, ehe die Mutter etwas einwenden konnte.
Draußen dehnte sich Agala und strich sich die Haare aus der Stirn. »Du bist plötzlich so hilfsbereit«, sagte sie.
»Ach«, meinte Moria und zuckte die Achseln. »Du tust mir leid.«
»Leid?«
»Na ja, es muss schwer sein, von daheim weg und in eine andere Familie, wir sind doch noch fremd für dich …«
Ein Zittern lief durch Agalas Körper. Und plötzlich legte Agala Moria die Arme um den Hals, lehnte ihren Kopf an ihre Schulter und weinte. Moria stand hilflos da, rührte sich nicht. »Noch nie hat hier jemand etwas so Liebes zu mir gesagt!«, schluchzte Agala dicht an ihrem Ohr.
Zaghaft legte Moria die Hand auf das Haar der Schwägerin. Agala löste sich wieder von ihr, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Holen wir Holz!« In stiller Übereinkunft erledigten sie die Arbeit.
Als die Männer gegessen hatten, aßen Moria und Agala mit der Mutter und den anderen Frauen und den Kindern die Reste. Dann schickte die Mutter Agala und Moria in den Gemüsegarten: Die Beete mussten gehackt und gesäubert werden.
Agala ging voraus. Moria holte noch die Geräte aus dem Schuppen. Als sie in den Garten kam, kniete Agala mitten in einem Beet und zeichnete mit den Fingern etwas in die Erde. »Was tust du da?«, fragte Moria und trat neben sie.
Agala zuckte zusammen, »Ach, nichts!« und verwischte hastig ihre Zeichnung.
Aber Moria hatte gesehen, was Agala gezeichnet hatte: ein offenes Dreieck. Plötzlich war Morias Mund trocken. Das Dreieck. Das Zeichen der Schwarzen Göttin des Alten Volkes.
Der Vater hatte streng verboten, dass an seinem Hof die Schwarze Göttin angerufen wurde. Sie musste es ihm sagen. Er würde dafür sorgen, dass Krugor Agala schwer bestrafte, vielleicht sogar tötete, so wie der Vater vor Jahren eine seiner Nebenfrauen –
Ein Alp legte sich auf ihre Brust. Sie konnte es nicht. Nicht Agala, die an ihrer Schulter geweint hatte. Sollte sie die Schwägerin warnen? O nein, damit wäre offensichtlich, dass sie gesehen hatte, was sie niemals hätte sehen und verschweigen dürfen!
Wenn sie tat, als habe sie nichts bemerkt, dann war es so, als sei alles in Ordnung. Und außerdem – vielleicht hatte sie sich getäuscht!
Agala nahm eine Hacke und begann scheinbar unschuldig zu arbeiten. Moria ließ sich neben ihr nieder und versuchte zu vergessen, was sie gesehen hatte. Es gelang ihr nicht. Aber sie wusste nun, sie würde die Schwägerin nicht verraten. Denn schließlich, war sie selbst nicht um vieles schuldiger, auch wenn es schon so lange zurücklag?
Heftig hackte sie gegen das Wirbeln in ihrem Kopf an.
Sie war ein kleines Mädchen im kurzen Kleid: Den Finger im Mund stand sie am Tisch, keiner achtete auf sie, alle Frauen waren mit der Vorbereitung des Gastmahls beschäftigt. Sie nutzte die allgemeine Hast, um rasch den Finger in den süßen Brei und dann wieder voll scheinbarer Unschuld in den Mund zu stecken, wieder und wieder. Niemand merkte es.
Mit hochrotem Gesicht gab die Mutter den Nebenfrauen, den Mägden und Cythia, der großen Schwester, Anweisungen, lief hin und her, kostete den Met, prüfte die Tücher, sah nach dem Brot im Ofen, der Suppe im großen Topf, dem Fleisch am Grillspieß, rührte Beeren unter die Dickmilch.
»Geh, Moria, steh mir hier nicht im Weg!« Ungeduldig schob die Mutter sie beiseite. Sie schlüpfte aus dem Haus. Auf eine Gelegenheit wie diese hatte sie gewartet.
Sie spähte über den Hof. Kein Mensch zu sehen. Und das Tor einen Spaltbreit geöffnet. Unbemerkt zwängte sie sich durch das schwere Tor, blickte noch einmal ängstlich zurück, dann rannte sie den Weg hinunter, so schnell sie konnte.
Als sie die Hecke erreicht hatte, verließ sie den Weg, lief im Sichtschutz der dichten Büsche, etwas langsamer nun: Hier hatte sie keine Entdeckung mehr zu fürchten. Raureif lag auf der morgendlichen Wiese, brannte unter ihren nackten Füßen. Dennoch war ihr heiß.
Mit Cythia gemeinsam hatte sie schon manchmal etwas Verbotenes getan. Sie war sehr mutig, die große Schwester. Aber jetzt, ganz allein –
Sie erreichte das Wäldchen, schlug sich hindurch, trat wieder ins Freie hinaus, stockte: Dort lag er, am Rand des kleinen Dorfes, der armselige Hof ihrer Freundin Wai. Sie durfte nicht mehr hingehen.
Читать дальше