Ich hatte nicht einmal einen Hausarzt und das über dreißig Jahre lang. Jetzt aber spielt das alles keine Rolle. Ist das fair? Soll ich jetzt sagen:
„Auch das ist Schicksal“.
Nein, das sollte ich weder sagen noch denken.
So stand ich nun alleine mit meinem Plan da. Ich hatte alles versucht was in meiner Macht stand. Ich habe gefragt, ich habe gebeten mir zu helfen und ich habe gehofft. Wieder einmal hatte ich umsonst gehofft. Das ist wieder eine Enttäuschung für mich, eine von Vielen.
Egal.
Wutwille.
Hilflos und überfordert, wütend und traurig.
Sirens Call!
Und deshalb war jetzt der Moment für mich gekommen, genau der richtige Moment. In diesem Moment hatte ich mich entschieden etwas zu verändern. Ich wollte etwas ändern, nein, ich musste etwas ändern. Jetzt!
Und heute würde ich damit beginnen. Ich würde meine gesamten Schmerzmittel, die ich am Nachmittag normalerweise einnahm nicht mehr nehmen. Das war der Plan. Nur die Schmerzmittel am Morgen wollte ich weiterhin einnehmen. Punkt! Ich wollte und ich würde es probieren. Punkt!
Jetzt!
Und somit würde ich das sogenannte BTM-Schmerzmittel und das schnell wirksame Analgetikum weglassen. Schmerzmittel aus dem BTM-Buch sind sehr, sehr starke Schmerzmittel aus dem Betäubungsmittelbereich, also zum Beispiel Opiate oder Morphine. Diese Medikamente unterliegen besonderen Bestimmungen und werden deshalb auf einem speziellen Rezept ausgestellt. Damit unterliegen diese Medikamente extra hohen Kontrollen sowohl beim Arzt als auch beim Apotheker.
Mein Entschluss stand jedoch fest, felsenfest! Und heute würde ich beginnen. Jetzt und hier. Es gab kein zurück! Es gab keine Ausrede und meine Bedenken waren schließlich nur meine.
Schicksal? Da musste ich selbst durch. Ich? Mein Schicksal hatte mich erreicht. Augen zu und durch!
Heute Abend wollte ich meiner Familie meinen Plan erklären. Ein klein wenig war ich stolz auf mich, gleichzeitig hatte ich Angst. Ich wusste nicht wie meine Familie reagieren würde. Egal.
Ich beruhigte mich selbst, denn falls mein Plan nicht funktionieren sollte, dann hatte ich es zumindest probiert. Dann hatte ich mir später nichts vorzuwerfen. Und falls es funktionieren sollte, dann war es gut. Dann war es ganz alleine mein Erfolg. Mein Verdienst! Ich wollte meinem Körper endlich Erleichterung schaffen. Ich wollte mir Erleichterung verschaffen.
Ich wollte wieder leben. Ich wollte mir eine Chance geben, mir.
Das ist Leben.
Ich hatte mit den schlimmen Nebenwirkungen der Medikamente bereits seit vielen Monaten große Probleme. Ich konnte meine Blase nicht mehr gut entleeren. Ich hatte kaum Stuhlgang. Ich benötigte regelmäßig Abführmittel, mehr und mehr. Mir wurde in letzter Zeit häufig schlecht. Ich musste oft erbrechen, mehr und mehr. Ich hatte Magenschmerzen. Ich hatte Bauchkrämpfe. Mein Körper schmerzte mich. Manche Nacht kratzte ich mich blutig. Meine Haut reagierte und zeigte mir deutliche Spuren.
Das tut weh.
Und ich wurde immer schwächer. Von Tag zu Tag und von Woche zu Woche wurde ich schwächer. Für mich war meine eigene Schwäche das Schlimmste. Am späten Nachmittag stand ich regelmäßig wie im Nebel. Mir wurde oft schwindelig, immer öfter. Mich strengte mein eigener Körper an. So sehr strengte mich mein Körper an, dass ich mit meiner Lilly höchstens noch einen kurzen Spaziergang am Vormittag gehen konnte. Eine halbe Stunde vielleicht, länger nicht. Wenn überhaupt so lange. Nur gehen, langsam gehen. Mehr nicht. Und am Nachmittag schaffte ich gar keinen Spaziergang mehr. Ich konnte nicht mehr.
Ich war so müde. Das war mein Leben. So ist mein Leben. Jetzt!
Wie sollte es sonst weitergehen? Wie viel verträgt der Körper, mein Körper? Und wie viel verträgt mein Körper noch?
An diesem Tag, also am 5.12.2014, würde ich meinen Plan in die Tat umsetzen. Countdown läuft. 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2 , 1… Zero!
Die Welt fühlte sich letal an. Normalerweise kenne ich dieses Gefühl nicht, ich denke nicht einmal daran. Aber heute gab es für mich wahrscheinlich nichts Besseres um meinen Verstand auf Hochtouren zu bringen. Heute wogte und krümmte sich die Welt unter mir wie ein gewaltiger Muskel. Nein, viel mehr. Noch viel mehr.
Nicht ein Muskel, alle Muskelstränge waren in Aktion. In einer Überaktion! In mir pulsierten die Muskeln und die Sehnen. Die Sehnen spannten. In mir dehnte sich alles bis kurz vor einen Riss. So gewaltig und so stark wie nie vorher. Die Nerven schlugen aus. Mein Körper zuckte und in meinem linken Fuß pulsierten die Blitze. Die Blitze, die wie Feuer durch meinen linken Fuß schossen und das Ziel verfehlten. Immer wieder und dann noch einmal von vorne. Immer wieder.
Was ist das?
Und von neuem musste ich erkennen und spüren wer das Sagen in mir hatte. Wieder zuckte mein Fuß, wieder tobte das Feuer tief in mir und ich war wieder einmal millionenfach überfordert. Ich spürte die Anspannung in mir und in meinem Kopf. Krieg in mir.
War ich das?
Nein, ich hatte mich entschieden. Klar und mit meinem festem Willen. Ich würde es tun. Heute und jetzt!
Meine Hand ballte sich zur Faust.
Es gab kein zurück!
Do it!
Als ich nach dem Frühstück wieder und wieder zur Toilette ging und versucht hatte meine Blase zu entleeren, zog ich endlich meine Laufhose an und nahm meine Fußbandage in die Hand. Ich streifte diese über meinen linken Fuß. Ein fester Ruck. Fertig. Jedes Mal kostete es mich Überwindung, weil mein Fuß sofort blitzte und die Schmerzen hindurch jagten. Immer noch und immer wieder, nach über vier Jahren. Bis heute hatte sich daran nichts geändert. Und bis heute hatte ich mich nicht daran gewöhnt.
Zum Glück stand meine Lilly bereits schwanzwedelnd neben mir und sah mich mit ihren fröhlichen Augen an. Das lenkt mich ab.
Bevor ich es vergesse Ihnen zu sagen, Lilly hat ein blaues und ein braunes Auge. In Amerika sagt man zu den Hunden mit verschieden farbigen Augen „Ghost Eye“, der „Geisterhund“.
Ich nenne sie „Lilly“.
Lilly hüpfte vor Freude an mir hoch. Sie stupste mich mit ihrer Nasenspitze immer wieder an. Sie wusste genau, dass wir nun eine Runde spazieren gehen würden. Lilly sprang wilde Kreise um mich herum und duckte sich immer wieder. Das ist die Aufforderung zum Spiel. Meine Lilly ist einfach toll. Wer hatte mich sonst in letzter Zeit zu irgendetwas aufgefordert?
Nachdem ich meine festen Laufschuhe zugeschnürt, die Winterjacke angezogen und meine Mütze über die Ohren gezogen hatte gingen wir los. Es war bereits kurz nach 11.00 Uhr. Wir gingen die Straße entlang zum kleinen Wäldchen. Ich lief langsam, da mich diese kurze Strecke schon sehr anstrengte.
Manchmal blieb ich stehen. Ich hatte keine Eile mehr. Ich hatte Zeit. Ich hatte so viel Zeit. Ich hatte die Zeit die ich gar nicht wollte. Ich nenne das: „Die sinnlose Zeit, die niemand braucht.“
Lilly schnüffelte am Boden und manchmal zog sie an der Leine. Mein Tempo war deutlich zu langsam für sie. Nach einer halben Stunde waren wir wieder zu Hause. Ich war total erschöpft. Lilly durfte im Garten bleiben. Dieser Dezember war bislang sehr mild, wir hatten keinen Schnee. Ich ging ins Haus und zog mich um. Dann legte ich mich auf mein Bett. Ich war so kaputt, mich hatte der Spaziergang sehr angestrengt. Ich musste mich ausruhen. Ich war müde. So durfte das nicht weitergehen. Oder?
Ist das normal? Was ist schon normal.
Später holte ich Lilly ins Haus und begann mit der Hausarbeit. Ich räumte den Geschirrspüler aus und stellte die Teller und Tassen an den richtigen Platz. Immerhin. Immerhin konnte ich diese Arbeit mittlerweile verrichten. Danach ging ich die Treppe nach oben und wollte die Wäsche bügeln. Als ich fast oben angekommen war jagte ein Blitz so heftig quer durch meinen Fuß, dass ich stehen bleiben musste. Ich stand auf der Treppe, bewegungslos. Ich war nicht in der Lage vorwärts oder rückwärts zu laufen. So stand ich einige Minuten. Ich stand einfach da, bis ich nicht mehr stehen konnte. Ich musste mich setzen. Also setzte ich mich auf eine Treppenstufe und wartete.
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