Dornröschen schläft noch…
Mein linker Fuß und mein linkes Bein vertragen kein Wasser mehr, kein warmes und kein kaltes. Wenige Tropfen Wasser lösen bereits heftige Schmerzattacken bei mir aus, bis heute. Blitze aus Feuer und Eis schießen dann durch meinen Fuß bis über mein Knie, einfach so. Als ob die Wassertropfen meinen linken Fuß zerschmettern und meine Knochen zertrümmern. Ohne Grund. Immer wieder. Ohne Sinn und ohne Zeit. Bis heute. Ich kann das nicht verstehen und es tut so schrecklich weh.
Ich kann gar nichts dagegen machen. Ich bin dem Geschehen hilflos ausgeliefert. Immer wieder und es hört nicht auf.
Ich nehme Medikamente um den Schmerz auszuhalten. Aushalten wäre zu viel gesagt. Die sehr starken Medikamente sollen den Schmerz abschwächen und es mir erträglicher machen. Heilen können diese Medikamente nicht. Und so kamen mehr und mehr und noch stärkere Medikamente zum Einsatz. Bis heute. Kein Ende in Sicht. Ich stehe schon ganz weit oben, Schmerzstufe 3, mehr geht nicht.
So, nun habe ich Ihnen meine Familie und mich vorgestellt. Und der CRPS gehört dazu. Jetzt kann ich Ihnen meine Geschichte weiter erzählen. Eine Geschichte wie das Leben eben spielt wenn nichts mehr ist wie es war.
Ende November 2014 geht mein Orthopäde Dr. Kern in den geplanten Ruhestand und zieht weg. Er hatte mich von Anfang an betreut und sehr sicher behandelt. Ich hatte großes Vertrauen und größten Respekt vor seinem medizinischen Wissen. Er konnte mich immer wieder motivieren. Er stand hinter mir mit seinem großartigen medizinischen Wissen und er stand neben mir als Mensch. Immer wieder.
Ich verdanke ihm wirklich sehr viel. Ich werde es ihm nie vergessen und ich sage:
D A N K E S C H Ö N dafür.
Und jetzt: Schnitt. Cut. Ende. Alles vorbei. Aus.
Ich werde von seinem Nachfolger übernommen und darf in der Praxis bleiben. Ich bin froh darüber, denn mein Krankheitsverlauf ist in meiner Patientenakte dokumentiert. Gleichzeitig bin ich aufgeregt und nervös weil ich nicht weiß wie der „neue Arzt“ ist.
Als ich an einem Mittwochnachmittag meinen ersten Termin bei dem „Neuen“ habe, nehme ich mir vor ganz unvoreingenommen zu bleiben. Zugegeben, ganz unvoreingenommen bin ich natürlich nicht. Das dürfte Ihnen klar sein. Aber ich will ihm eine Chance geben.
Nachdem ich einige Minuten im Wartezimmer gewartet hatte wurde ich aufgerufen. Ich ging in das Sprechzimmer und wurde freundlich von ihm begrüßt. „Hallo, Frau Hübner. Ich kenne Sie. Ich habe Sie im Klinikum Münchberg mehrmals gesehen.“ Ich antwortete: „Guten Tag. Ja, das ist gut möglich. Ich war einige Male zur stationären Schmerztherapie im Klinikum bei Dr. Greim.“ Der Neue sagte nur: „Ja, genau.“ Dann las der „Neue“ weiter in meiner Computerakte. Es war ganz still im Sprechzimmer als der „Neue“ zu mir sagte:
„CRPS ist Schicksal.“
Mehr sagte er nicht. Es war mucksmäuschenstill in diesem Moment. Ich stand sprachlos im Sprechzimmer. Was war das denn? War das alles? Gab es keine Fragen an mich? Gab es nur diese Feststellung? War das alles?
Dann fragte mich der „Neue“ doch noch:„Brauchen Sie etwas?“ Ich nickte nur. Ich war so durcheinander und irritiert von seiner Feststellung. Wieder war es still im Raum. Dann antwortete ich und meinte nur: „Ja, ich benötige eine neue Arbeitsunfähigkeitsmeldung, bitte. Außerdem noch Rezepte für die Krankengymnastik und die manuelle Lymphdrainage.“ Es war mucksmäuschenstill im Zimmer und die Sprechstundenhelferin tippte meine Anforderungen in den Computer. Man hörte nur das Klappern ihrer Fingernägel auf der Tastatur. Wenig später legte sie die ausgedruckten Rezepte und die Bescheinigung dem Arzt zur Unterschrift vor. Es war ganz still. Totenstille im Raum. Totenstille in mir. Schock? Herzklopfen in mir.
„So, bis zum nächsten Termin.“ Der neue Arzt gab mir die Hand und ging aus dem Zimmer. Und ich sagte nur: „Auf Wiedersehen“.
Der „Neue“ hatte das Behandlungszimmer bereits verlassen als ich kurz danach den Flur zurück zum Ausgang ging. Ich wollte nur noch hinaus, schnell hinaus, schnell nach Hause fahren.
Ich lief die Treppe hinunter zum Ausgang und ging zu meinem Auto. Ich war noch immer geschockt und erstaunt. Erstaunt, dass so wenige Worte ausreichen sollten. Reichte das? Was war das denn? Wo bin ich?
Ich war so enttäuscht. Ich war entsetzt. Hatte ich das erwartet? Die Chance, die ich dem „Neuen“ gegeben hatte, war verspielt, vorbei. Zumindest für diesen Moment.
War ich ungerecht?
Was hatte ich erwartet? Falsch, nicht erwartet, ich hatte gehofft. Wieder einmal hatte ich gehofft. Ich hatte gehofft, dass sich der „Neue Arzt“ für meinen Fall interessiert. Das hatte ich mir erhofft, erhofft und gewünscht. Aber er hatte mich nicht einmal gefragt wie es mir geht.
Als ich in meinem Auto saß kullerten die Tränen über meine Wangen. Ich saß einfach nur im Auto und heulte. Ich heulte und konnte nicht mehr aufhören. Ich konnte mich nicht beruhigen. Ich hatte lange nicht mehr so geweint. Jetzt aber lief mir ein Meer aus Tränen über mein Gesicht. Ich war traurig. Ich war so enttäuscht. Ich war so verletzt, tief verletzt. Verdammt, das tut weh.
Ich weinte nur. Dazu spielte die Musik aus dem Autoradio, leise Musik und Tränen über Tränen.
Als ich mich endlich ein wenig beruhigt hatte startete ich den Motor, drehte die Musik lauter und fuhr nach Hause. Immer wieder wischte ich mir die Tränen vom Gesicht, immer wieder. Ich heulte weiter. Alles kam raus, meine Enttäuschung, meine Zweifel, meine Angst und meine Hoffnung. Alles!
Hoffentlich würde mich niemand fragen, wie es war. Was sollte ich dann sagen?
Als ich zu Hause angekommen war und im Flur meine Jacke und meine Stiefel auszog und in meine „Spezial“ gebetteten Pantoletten schlüpfte hörte ich Reinhard rufen: „Na, wie war er? Was hat der neue Doc gesprochen?“ Ich schluckte nur, denn ich konnte gar nicht antworten weil mir schon wieder die Tränen herunter liefen. Reinhard rief noch einmal: „Hast du mich nicht gehört? Wie war er denn?“ Ich antwortete und schluchzte dabei: „Was er gesagt hat? CRPS ist Schicksal, mehr nicht! Ich kann nicht mehr. Ich halte das nicht aus. Wie geht es weiter mit mir? Ist es damit getan es Schicksal zu nennen, mehr nicht? Ich bin doch lange noch nicht fertig. Oder? Ist das alles? Das darf nicht sein. Nein, das ist doch nicht das Ende? Sag es mir, bitte.“
Und da war sie wieder da. Meine Verzweiflung. Meine Angst. Ich fiel in ein großes Loch, ganz tief. Dieser kurze Moment löste bei mir größte Sorge aus und ich stellte meine Zukunft in Frage. So schnell geht das.
Reinhard sagte gar nichts dazu. Er wusste keine Antwort darauf und er wollte mich vermutlich nicht noch mehr beunruhigen. Ich ging schniefend die Treppe nach oben und legte mich auf unser Bett. Ich weinte und Tränen tropften leise.
Ich nahm meinen kleinen weißen MP3-Player von dem Nachttisch und steckte mir die Ohrstöpsel in meine Ohren. Dann schaltete ich den MP3-Player an. So, nun war ich dem Geschehen entflohen. Ich musste keine Fragen über mich ergehen lassen und ich musste nicht antworten. Ich hatte sowieso keine Antwort.
Ich machte die Augen zu. Und weg war ich, in Gedanken weit weg. Ich hörte nur noch meine Musik, laut, ganz laut. Die Tränen liefen mir über das Gesicht. Ja, ich war sehr traurig in diesem Moment, sehr sogar.
Ich stellte die Lautstärke noch höher ein. Bis zum Trommelfell platzen. So konnte ich mich zumindest für diesen Moment wegbeamen. Ich wollte jetzt nichts anderes. Nicht reden, nicht diskutieren, keine guten Ratschläge, keine Kompromisse, keine Chancen, keine Fragen, keine Gedanken an Besserung, kein neues verzweifeltes Hoffen, nichts. Wo bin ich? Skyscraper?
Ich lag schon eine Weile auf meinem Bett, da bemerkte ich, dass meine Hündin „Lilly“ schwanzwedelnd vor meinem Bett stand und mich ganz sanft an der Hand ableckte. Sie leckte zärtlich über meine Hand. Ganz zart und vorsichtig, so als wollte sie mich nicht erschrecken. Ich machte die Augen auf und Lilly sah mich mit ihren fröhlichen Augen an. Ich streckte meine andere Hand aus und streichelte ihr Fell. Dann sagte ich leise zu ihr: „Lilly, gut das du da bist.“ Ich streichelte weiter ihr weiches Fell. Das beruhigte mich. Das tat mir so gut. Ich atmete jetzt ganz ruhig. Lilly wich nicht von meiner Seite, so als ob sie mir beistehen und mich beschützen wollte. Das tat mir so gut. Ich liebe sie.
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