Dieser nickte eifrig und ihm war die Freude über die Aufgabe anzusehen. Gregor war sich wiederum der Tatsache bewusst, dass die von ihm gewünschten Ermittlungen auf zwei Wegen zu erlangen waren: offiziell und langwierig, oder illegal und schnell. Ihm war auch klar, dass Schmuddel nicht der Mensch für den langwierigen Weg war und sehr wahrscheinlich die illegale Abkürzung beschreiten würde. Wenn es aber um Ermittlungserfolge ging, stellte Gregor seine Bedenken im Hinblick auf die Legalität von Schmuddels Tun doch lieber zurück.
Eine Vernehmung stand noch aus. »Wer kümmert sich um die ausführliche Vernehmung der Pfarrgemeindesekretärin, dieser Frau Knecht?«
Er hatte die Frage noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als Schmuddels Hand nach oben schnellt.
Also doch, er ist an dieser Frau interessiert. Soll ich ihm deshalb ihre Vernehmung verweigern?
Rein sachlich gab es dazu keinen Grund, weshalb Gregor einfach wortlos nickte.
Er ließ den Blick durch seine kleine Bude schweifen. Die unterschiedlichsten Gedanken machten sich ungefragt in ihm breit.
Für einen Junggesellen reichen 40 Quadratmeter doch voll und ganz, dachte er bei sich. Je kleiner, desto weniger aufzuräumen. Hat ja auch was für sich. Klein, aber mein, na ja, nicht mein und auch nicht fein, aber hier kann ich mich gehen lassen, wie ich will.
Er konnte nicht verhindern, fast ununterbrochen an die Begegnung dieses Tages zu denken. Die junge Frau hatte ihm gut gefallen - mehr als gut. Er fragte sich, was es zu bedeuten hatte, dass er seinen Spitznamen verschwiegen und sich mit Klaus Braake vorgestellt hatte. Es hatte ihn doch noch nie gestört, wenn man ihn Schmuddel nannte?
Und wann hatte er eigentlich zum letzten Mal eine Frau mit in dieser Wohnung gehabt? Es machte ihn wahnsinnig, dass es ihm nicht einfallen wollte.
Anderthalb Jahre? Mehr als zwei Jahre? Verdammt, das kann doch nicht wahr sein!
Er blickte sich in seiner Bude um, und musste sich eingestehen, dass er es bei dem derzeit vorherrschenden Chaos niemandem zumuten konnte, sein Domizil zu betreten. Überall verstreut lagen schmutzige Kleidungsstücke, alte Zeitschriften und angebrochene Tüten von Chips und Salzstangen. In der kleinen Kochnische stapelte sich das dreckige Geschirr, und lediglich seine Computerecke, die eigentlich das Zimmer dominierte und mehr als ein Drittel des Platzes in Anspruch nahm, wirkte einigermaßen ordentlich.
Was mach ich mich eigentlich verrückt? Ich weiß doch gar nicht, ob sie überhaupt etwas von mir will. Wahrscheinlich hat sie ja auch einen Freund.
Dennoch hatte er das untrügliche Gefühl, als habe sie bei der kurzen morgendlichen Befragung ein wenig mit ihm geflirtet. Wenn er sie morgen ausführlicher vernehmen würde, könnte er hoffentlich mehr zu diesem Thema sagen.
Ohne es sich selbst erklären zu können, begann er in einer Aufwallung von für ihn absolut unüblichem Ordnungssinn ... die Wohnung aufzuräumen.
»Du glaubst nicht, was heute angekommen ist«, überfiel Sonja ihren nach Hause kommenden Lebensgefährten freudestrahlend. Sie umarmte Gregor und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Lippen.
Er hielt sie auf Armeslänge von sich weg und schaute prüfend in ihr Gesicht. »Da du seit Wochen über fast nichts Anderes redest, gehe ich zwingend davon aus, dass es sich um die technische Ausrüstung für das rechtsmedizinische Institut handelt.«
»Bäh, Spielverderber«, wies sie ihn mit gespielter Verärgerung zurecht. »Tu doch wenigstens so, als ob du raten müsstest.«
»Warum?«
Sonja seufzte tief. Es war sinnlos und sie überlegte, ob sie versuchen sollte, es ihm zu erklären, was der Sinn rhetorischer Fragen war und warum sie ihm stolz berichten und dann seine freudige Überraschung zur Kenntnis nehmen wollte. Gregor war für Frage-und-Antwort-Spiele nicht der geeignete Partner. Er konnte keine Unwissenheit vortäuschen, wenn er die Antwort kannte. Er verstand auch nicht, warum sie ihm eine Frage stellte, wenn sie die Antwort schon kannte.
Lass dich mit einem Logiker ein und du bekommst die Quittung, die du verdienst.
Aber sie liebte ihn dennoch, wenn auch nicht gerade in solchen Momenten. »Ja, du hast ja Recht. Komm, ich habe das Essen gleich fertig und wenn wir gegessen haben berichte ich dir ausführlich.«
Das hinter ihr her gemurmelte »Das war keine adäquate Antwort auf meine Frage« ignorierte sie einfach.
Aber schon während des Essens war Sonja nicht in der Lage, ihre Begeisterung über das neue Gerät in den Griff zu bekommen und schwärmte unentwegt davon.
Viele andere Männer hätten sie gebremst und auf ihre ursprüngliche Aussage verwiesen, bis nach dem Essen warten zu wollen. Gregor allerdings lauschte schweigend und schien alle Informationen wie ein Schwamm in sich aufzusaugen. Ein Teil war ihm natürlich schon bekannt, denn er war nicht ganz unschuldig an dem Umstand, dass die Rechtsmedizin nun über diese nagelneue und hochtechnologische Apparatur verfügte.
Vor mehr als einem Jahr hatte Gregor ein Erbe angetreten, das auf einem Verbrechen in der Nazizeit basiert hatte und das er demzufolge nicht annehmen wollte. Das galt sowohl für das Bankhaus Mandelbaum als auch für das Grundstück der damals abgebrannten Mandelbaum-Villa mitten in Frankfurt. Aber anstatt das Erbe einfach abzulehnen, hatte er eine Stiftung gegründet und alle Vermögenswerte, die auf unrechte Art und Weise in den Besitz der Familie gekommen waren, dieser Stiftung zur Verfügung gestellt. Ziel der Stiftung war es, die Verbrechensbekämpfung zu unterstützen, wo immer es möglich war. Dazu musste lediglich ein Antrag an den Stiftungsrat - dem Gregor natürlich auch selbst angehörte - gestellt werden und danach wurde dort entschieden, ob das entsprechende Projekt unterstützt wurde oder eben nicht. Einer dieser Anträge war vor über drei Monaten vom rechtsmedizinischen Institut der Goethe-Universität Frankfurt gestellt worden und betraf eine sündhaft teure Ausrüstung. Was schon seit Jahren in Fernsehserien wie › CSI‹ , ›Bones – die Knochenjägerin‹ und vergleichbaren amerikanischen Krimi-TV-Serien immer wieder dargestellt wurde, hatte seit kurzem Einzug in die Realität gehalten. Ein Schweizer Unternehmen hatte die Virtopsy und den Virtobot entwickelt und gebaut. Virtopsy stand für die Verbindung der Worte ›virtuell‹ und ›Autopsie‹. Der Virtobot war das Gerät, das die virtuelle Autopsie durchführte. Es war ein Instrument, dass man als eine Kombination aus CT, MRT und Röntgengerät bezeichnen konnte, bei dem ein toter menschlicher Körper durch eine Art Ring gefahren wurde, der alles aufnahm, in einem Computer verarbeitete und anschließend dreidimensional auf Bildschirmen darstellen konnte. So war es möglich, in einen Körper hineinzusehen, ohne ihn öffnen zu müssen. Darüber hinaus stellte es eine Detailgenauigkeit dar, die weit über das menschliche Auge hinausging, ließ sich vergrößern und verkleinern und in allen Dimensionen drehen.
Der Virtobot sah, außer dem Ring, durch den der Körper gefahren wurde, wie ein Roboterarm in einer modernen Fertigungsstätte für Autos aus. An seinem Ende ließen sich verschiedene Geräte befestigen, die der Virtobot sich selbst aus einem Arsenal holte. Das waren zum Beispiel unterschiedliche Kameras, die einen Oberflächenscan ausführten und somit äußere Verletzungen dokumentierten, aber auch die Grundlage für Körpermessungen darstellte. Mit stattdessen dort angebrachten Spritzen und Kanülen entnahm der Roboterarm darüber hinaus noch Gewebeproben und Körperflüssigkeiten, sodass sowohl eine Biopsie als auch eine toxikologische Untersuchung von dem Computer selbständig durchgeführt werden konnten.
Sonja war versucht zu erwähnen, dass die Leiche des Pfarrers ein oder zwei Tage zu früh bei ihr auf dem Tisch gelegen hatte, biss sich aber noch rechtzeitig auf die Lippen. Es wäre unsensibel und morbide gewesen, so über den Zeitpunkt des Todes eines Menschen zu sprechen. Sie erwischte sich dabei, dass sie insgeheim kurz die Hoffnung hatte, eine neue Leiche würde nicht lange auf sich warten lassen.
Читать дальше