"Sei auf der Hut. Das Böse ist wieder nah. Es wird nach dir greifen. Schütze dich!"
Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Rasch blickte ich mich um, aber ganz offensichtlich hatte niemand etwas bemerkt. Natürlich nicht - außer mir konnte ja niemand diese Stimme vernehmen, diese Verbindung zu meinen Kindertagen in Süd-Afrika. Douglas kam mit einer Flasche Black Bush zurück, meinem zweitliebsten Whisky. So sehr ich mich normalerweise darüber gefreut hätte, so vergällt war plötzlich der Abend. Ich trank das Glas aus, das er mir reichte, aber ich schmeckte nichts. Würde das alles nie ein Ende finden?
Die See war ruhig und glatt wie ein endloser, blauer Teppich. Die Fähre glitt über die Nordsee. Vor der Abfahrt hatte ich mir noch etwas Proviant und eine lokale Zeitung gekauft und war dann recht zügig die lange Strecke von St. Ives über Exeter und die M3 nach London und hoch bis zum Fähranleger in Harwich gefahren. Jetzt lag der "Cornish Guardian" vor mir und ich trank genüßlich meinen "Gatsby", diesen herrlichen Drink mit "Southern Comfort", Lime-Juice und Ginger Ale. Warum, weiß ich nicht, aber mit einem Mal stand ihr Bild wieder vor meinen Augen. Ich sah Avivas schulterlanges, schwarzes Kraushaar im Wind wehen, ihre hohe Stirn, die hochgezogenen, langen, dunklen Augenbrauen, die großen dunkelbraunen Augen, ihre schmale Nase, den verheißungsvollen roten, feuchten Mund und ihr süßes schmales Kinn. Fast so groß wie ich, stand sie plötzlich vor mir, eines ihrer schlanken Beine leicht vorgestreckt, mit einem kurzen Schwung ihrer schmalen Hüfte unter dem schwarzen Lederminirock. Ich riß die Augen auf. Doch da war das Bild schon wieder verschwunden. Eine völlig andere junge Frau drängte sich an meinem Tisch vorbei zum Bartresen. Ich seufzte auf. Würde sie mich nie loslassen?
Gedankenverloren blätterte ich die Zeitung um. Eine kleine Meldung fing plötzlich meine Aufmerksamkeit. Unter der Rubrik "Obituaries" - Nachrufe - las ich:
Thomas Donegal, 95 Jahre alt. Er entdeckte Margret Plynchon, Cedric Walls und Vincent Brown. Heute hängen Bilder dieser Künstler in Museen von London bis Fort Worth, Texas. Stets war sein Leben darauf ausgerichtet, andere voran zu bringen, anderen zu helfen. Nachdem das Heim 1965 geschlossen wurde, dessen Leitung er nach dem Krieg in seinem Geburtsort Newlynthian an der Atlantikküste übernommen hatte, zog er nach St. Ives, wo er die Galerie “Clodgy Corner” eröffnete. Leidenschaftlich engagierte er sich bis zuletzt im Kampf gegen Kinderpornographie und Sextourismus. Neben den vielen Künstlern und Künstlerinnen, die er förderte und denen er regelmäßig Ausstellungen widmete, galt seine zweite Liebe dem Wein. In den achtziger Jahren konnte er seine Galerie zu einem der exquisitesten Weinlager in ganz Süd-England erweitern. Für seine Freunde und Kunden viel zu früh, verstarb Mr. Donegal gestern an den Folgen eines Unfalls. Seine Kunden im gesamten Königreich werden ihn und seine fachkundigen Ratschläge vermissen. Sein Neffe Timothy Moyles wird die Galerie weiter führen und versuchen, die Freunde des edlen Rebensaftes auch weiter zufrieden zu stellen.
Meine Güte, was für eine Sprache. Aber das war bei dererlei Anzeigen wohl so üblich. Ich durfte sie nicht mit den geschliffenen Nachrufen aus der "Times" oder dem "Guardian" vergleichen. Das Beste fand ich jedoch die Formulierung, daß er an den Folgen eines Unfalls gestorben sei. Das konnte alles mögliche bedeuten - vom Sturz beim Fensterputzen bis zum Autounfall. Und nur ich wußte, daß er ermordet worden war. Nein, das stimmte nicht ganz - der Mörder wußte es ebenfalls. Und niemand verdächtigte ihn, niemand verfolgte ihn. Ich merkte, wie ich im Geiste immer von "ihm" sprach. Irgendwie stand für mich fest, daß die andere Gestalt, die ich gesehen hatte, ein Mann gewesen war. Rational begründen konnte ich dies jedoch nicht. Entschlossen faltete ich die Zeitung zusammen. Es hatte keinen Zweck. Ich durfte mich da nicht hinein ziehen lassen. Ich durfte mich noch nicht einmal gedanklich damit beschäftigen. Zu Hause wartete Arbeit auf mich und der galt es, meine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Ich sah auf die Uhr. Es war Zeit. Ich ging ins Restaurant, wo ich einen Platz am Fenster reserviert hatte. Das reichhaltige und köstliche Buffet ließ mir das Wasser im Munde zusammen laufen. Dies würde ein herrlicher kulinarischer Schlußpunkt meines Kurzurlaubs werden.
Nach dem Essen begab ich mich in bester Stimmung auf Deck, um noch etwas Seeluft zu schnuppern, bevor ich mich in meine Kabine zurück ziehen würde. Es herrschte eine wundervoll friedliche Abendstimmung. An die Backbord-Reling gelehnt, blickte ich nach oben. Da strahlte der Mond am immer dunkler werdenden Himmel. Alle Sorgen, alles Böse, alles was mich bedrückte, war so weit weg, schien nicht mehr zu existieren. Mit einem Mal drangen Stimmen an mein Ohr. Zuerst achtete ich nicht weiter darauf. Dann aber ließ mich der Tonfall aufhorchen. Ein Mann und eine Frau sprachen miteinander. Sie schienen zu streiten. Die Stimmen, vor allem die des Mannes, kamen mir bekannt vor. Anfangs verstand ich nur vereinzelte Worte, doch dann wurde der Mann lauter.
"Gar nichts habe ich getan, wie oft soll ich das noch sagen! Du bist hysterisch."
"Sei doch nicht so laut. Jeder kann dich hören."
Unwillkürlich zog ich mich von der Reling in den Schatten zurück.
"Außer uns ist hier niemand. Und wenn du nicht sofort Ruhe gibst, werfe ich dich über Bord."
"Das würde dir nur noch mehr Ärger einbringen, als du sowieso schon bekommen wirst. Glaubst du, das bleibt jetzt unentdeckt, nachdem der alte Mann tot ist? Deine Panscherei wird uns noch einmal hinter Gittern bringen, habe ich dir immer gesagt!"
"Hör' endlich auf, mit dem blöden Geschwätz. Gar nichts wird passieren. Der junge Kerl steigt in die Verträge ein. Das habe ich sicher."
Jetzt klang die Frau wirklich hysterisch.
"Sicher - du sprichst von sicher? Du merkst gar nicht, wie sehr du dich da reingeritten hast. Die Lieferungen aus Italien und Österreich, die Besuche der Belgier - und du meinst, niemand merkt was?"
"Wenn du jetzt nicht sofort die Klappe hältst, du dämliche Ziege, dann verpasse ich dir eine. Ich hab' alles im Griff. Und jetzt brauch' ich erst mal einen Drink!"
Mit diesen Worten schien er sie stehen zu lassen, denn ich hörte Schritte. Sehen konnte ich ja nichts. Eben war noch alles friedlich und mir meine kleine Welt heil erschienen. Was für ein Trugschluß. Das kommt davon, wenn man alles einfach nur verdrängen will, dachte ich bitter. Die Ereignisse der letzten Tage standen mir erneut plastisch vor Augen. Mittlerweile hatte ich die Stimme des Mannes erkannt. Es handelte sich zweifellos um das deutsche Paar, das ich zuerst in Boscastle und dann bei seiner überhasteten Abfahrt von Tintagel Castle gesehen hatte. Ich hatte nicht weiter darüber nachdenken wollen, aber nun drängte sich die Frage geradezu auf: war dieser bullige Deutsche der Mörder des alten Donegal? Beweisen konnte ich natürlich nichts, aber der Grund schien im Weinhandel des alten Engländers zu liegen. Von Panscherei war eben die Rede gewesen, von Verträgen, die auch der Junge - offenbar dieser Neffe Timothy - einhalten würde und von Lieferungen aus Österreich, Italien und Belgien. Daß man aus Belgien auch Wein bekam, war mir neu, aber was soll's. Aber nun war ich mit meinem Latein auch schon am Ende. Nach England zurückfahren, kam für mich nicht in Frage; ich hatte wirklich eine Reihe wichtiger Termine und Sachen zu erledigen. Der deutschen Polizei erzählen, was ich wußte, war noch sinnloser. Denn was wußte ich schon wirklich? Gar nichts, bei Licht betrachtet. Im Moment hatte ich einen begründeten Verdacht, aber den konnte ich niemandem erzählen, ohne nicht Gefahr zu laufen, ausgelacht zu werden. Und dazu war die deutsche Polizei auch erst einmal überhaupt nicht zuständig. Vielleicht würden sie eine Nachricht an ihre britischen Kollegen schicken; wahrscheinlich jedoch nicht einmal das. Nein, ich würde mich beim Stand der Dinge nur absolut lächerlich machen. Und deswegen würde ich mich jetzt auch nicht einmischen, selbst wenn mir diese kurzen Gesprächsfetzen eben die Haare zu Berge hatten stehen lassen. Das war hier nicht meine Angelegenheit und ich hatte nichts damit zu tun.
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