Ich sah auf, konnte aber weit und breit niemanden sehen. Und doch war mir, als wehte der Wind den Klang von Stimmen zu mir herüber. Die Atmosphäre an diesem Ort war eigenartig. Bildete ich mir das alles nur ein? Ich war doch allein hier oben. Immerhin war die Halbinsel an dieser Stelle so flach, daß ich leicht hätte erkennen können, wenn sich noch andere Menschen hier aufhielten. Das mußte an dem guten Wein liegen, dem ich gestern abend mehr als reichlich zugesprochen hatte. Wahrscheinlich hatte ich noch soviel Promille im Blut, daß ich Realität und Traumvorstellungen nicht klar auseinander halten konnte. Mühsam erkämpfte ich mir meinen Weg über das Gras, gegen den Wind, abseits der Touristenpfade. So gelangte ich mit einem Mal an den Klippenrand und wich zurück. Von meiner Position aus, oberhalb des Inner Ward konnte ich zurück aufs Festland blicken und damit auf den korrespondierenden Teil der alten Burganlage, den sogenannten Lower Ward. Um den Naturgewalten zu trotzen, kniete ich mich hin und schaute hinüber. Da, wo ich vom Kartenhäuschen den Aufstieg begonnen hatte, stieg eine weitere Treppe in die andere Richtung hoch, zu eben jenem Lower Ward, dessen Außenmauern noch halbwegs trutzig hochragten. Gleich unterhalb der Mauern fiel an jener Stelle der Felsen steil in die Tiefe ab. Und da sah ich sie.
Zwei Gestalten standen hoch oben auf der Mauerkrone. Ich konnte von der Entfernung und bei dem Licht nicht ausmachen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Das einzige, was ich erkennen konnte, war daß eine der Figuren kleiner war, als die andere. Sie gestikulierten beide heftig und schienen gleichzeitig gegen den Sturm anzukämpfen. Plötzlich packte die größere Gestalt die kleinere, hob sie hoch und warf sie über den Rand der Klippen in die Tiefe. Mir stockte der Atem. Ich riß die Augen weit auf. Hatte ich das eben wirklich gesehen? War da jemand umgebracht worden? Eine Regenbö zwang mich für einen Moment, die Augen zu schließen und den Kopf zu senken. Als ich wieder aufblickte, sah ich niemanden mehr. Mauern, Steine und Felsen lagen verlassen da wie schon seit Jahrhunderten. Ich kauerte an meinem Platz wie gelähmt. Alles wirkte so unwirklich. Schließlich raffte ich mich auf und ging auf dem Weg zurück, auf dem ich gekommen war. Allerdings bog ich nicht zum Kartenhäuschen ab, sondern stieg die Stufen zur anderen Seite, zum Lower Ward empor, wo ich vor wenigen Augenblicken noch meinte, Zeuge eines Verbrechens gewesen zu sein. Als ich außer Atem oben anlangte, blickte ich mich nach allen Seiten um. Doch da war niemand zu sehen. Ich war offensichtlich allein hier oben. Vorsichtig näherte ich mich jener Außenmauer des Burghofes, auf der ich die beiden Gestalten im Streit zu sehen geglaubt hatte.
Der Wind frischte auf und ich hatte Angst, plötzlich auszurutschen und selbst in die Tiefe zu stürzen. Behutsam kletterte ich die Steinstufen zur Mauerkrone empor und näherte mich dem Rand. Ich ging in die Knie, um nicht von einer plötzlichen Bö erfaßt und in den Abgrund gerissen zu werden. Und da sah ich ihn. Wasser schäumte gegen einen Felsen tief, tief unter mir, wich wieder zurück und gab den Blick auf einen menschlichen Körper frei, der zwischen den Klippen hing. Wie mit einem Pfiff entwich mir der Atem. Hatte ich mich also nicht getäuscht. Ich mußte tief Luft holen. Ich leide nicht unter Asthma, aber in diesem Moment war mir, als bekäme ich keine Luft. Schnell wandte ich mich ab und schloß die Augen. Nur keine Panik jetzt, murmelte ich wie ein Mantra mehrmals vor mich hin. Was ich gesehen hatte, ging niemanden etwas an. Mit etwas Glück würde es mir gelingen, die Bilder des Sturzes und jenes schlaffen Leichnams zwischen den Klippen zu verdrängen. Morgen befände ich mich bereits auf der Heimreise und würde diese Episode tief in meinem Inneren verschließen. Sollten sich andere, Berufenere, darum kümmern.
Als ich mich erhob, merkte ich, wie wackelig meine Knie waren, wie sie zitterten. Mit aller Kraft zwang ich mich zur Ruhe und machte mich an den Abstieg. Da ich jetzt niemandem begegnen wollte, noch nicht einmal dem jungen Karten-Verkäufer, nahm ich den Pfad, der oberhalb des Ticket-Häuschens zu dem Weg führte, auf dem ich - erneut bergauf stapfend - zum Parkplatz gelangte. Es hatte wieder zu regnen begonnen, heftiger als zuvor. Der Boden wurde schlammig und rutschig. Es war empfindlich kalt geworden, doch mein Frösteln hatte andere Ursachen. Endlich erreichte ich meinen Wagen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß Douglas erst in einer Viertelstunde in der Bar erscheinen würde. Aber was sollte ich im Auto warten. Und der Weg zum Hotel war zu kurz, um zu fahren - trotz des miesen Wetters. Also drehte ich mich um, um die paar Meter zum "Wootons" zu laufen. Da stieß ich hart mit jemand zusammen, der plötzlich hinter mir angerannt kam. Meine erste Reaktion war heftiger Schrecken und dann sofort Wut. Konnte diese Person nicht aufpassen und schauen, wohin er oder sie lief? Ohne stehen zu bleiben oder auch nur zu zögern, stürmte der Mann jedoch sofort weiter, an mir vorbei und zu dem Wagen, der neben meinem parkte. Bei meiner Ankunft hatte er noch nicht dagestanden. Ich starrte ihm hinterher. Erst jetzt fiel mir auf, daß es ein Mann gewesen war. Und dazu kam er mir bekannt vor. In dem Auto, einem Golf, saß noch jemand auf dem Beifahrersitz. Kaum war der Mann eingestiegen, ließ er auch schon den Motor an, setzte heftig zurück und fuhr rasch an mir vorbei. Verblüfft schaute ich hinterher. Das Kennzeichen kam aus Deutschland: HL für Lübeck. Und sofort dämmerte mir, woher ich den Mann kannte. Es war jener kräftige Deutsche aus dem Cobweb Inn in Boscastle gestern gewesen, der seine blonde Begleiterin so angeschnauzt hatte. Was sie hier gemacht hatten, war nicht schwer zu erraten - Touristen wie ich eben. Aber warum war er so gerannt, wie von Furien gehetzt? Im Lichte dessen, was ich eben dort oben auf den Klippen erlebt hatte, wollte ich lieber nicht weiter darüber nachdenken. Ich gab mir einen Ruck und hastete zu meinem Treffen mit Douglas.
Die Bar war leer. Nicht nur, daß noch keine Touristensaison herrschte, es war auch recht früh am Tag. Erneut warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Immerhin war es bereits zwölf Uhr dreißig, das heißt, ich konnte schon etwas zu trinken bekommen. Vorsichtig zog ich meinen tropfnassen Parka aus und hängte ihn mehr schlecht als recht über einen Stuhl beim Fenster. Ein freundlich wirkender, junger Mann schien meine Ankunft bemerkt zu haben und trat erwartungsfroh hinter den Bartresen. Ich bestellte mir, ohne groß nachzudenken, einen Lagavulin und war bei der Reaktion des Barkeepers erleichtert, daß das Hotel diese Whisky Marke führte. Es ist einer jener relativ seltenen Single Malt Whiskys von der Insel Islay der Inneren Hebriden, deren rauchig-holzigen Geschmack ich sehr mochte. Mit meinem Glas setzte ich mich an den Tisch, wo ich meinen Parka gelassen hatte und trank einen kräftigen Schluck. Sofort durchströmte mich angenehme Wärme. Mit geschlossenen Augen zog ich den Duft des Getränks ein.
"Meine Güte, du siehst ja blaß aus wie der Tod. Kein Wunder, daß du jetzt schon säufst. So schlimm ist das Wetter nun aber auch wieder nicht."
Ich riß die Augen auf und blickte in Douglas' strahlendes, rundes Gesicht. Er schüttelte den Kopf.
"Du solltest dich mal im Spiegel ansehen, alter Freund - oh, Verzeihung, aber Spiegel sind ja seit kurzem tabu bei dir."
"Hol' dir was zu trinken und quatsch kein krauses Zeug!" knurrte ich ihn an. Sofort tat es mir leid, ihn so angeblafft zu haben und ich rang mir ein Lächeln ab.
"Entschuldige, Doug, aber es war keine besonders gelungene Idee von mir, heute auf dem Felsen in den Ruinen herum zu laufen. Ich hoffe, du hattest eine angenehmere Zeit als ich."
Er blieb vor mir stehen und musterte mich für einen Moment. Ich hatte den Eindruck, daß er mir diese flüchtige Erklärung nicht abkaufte. Aber er wollte jetzt auch nicht insistieren und nickte nur.
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