Demnächst war auch er in der Lage, Wunderheilungen zu vollbringen und Verlorenes wiederzufinden. Wie im Buch beschrieben, hatte er dem Teufel den Spiegel unter Gefahr für Leib und Leben abgerungen, die magischen Vorschriften erfüllt und zu guter Letzt den Herrn der Hölle um seinen Lohn geprellt! Denn das erste Lebewesen, das in den Spiegel sah, sollte dem Teufel gehören. Nun, er wünschte diesem viel Vergnügen mit der dummen Katze!
Sorgfältig schlug er ein Tuch um den kostbaren Spiegel und barg ihn in seinem Wams. Schnell scharrte er die Grube zu, trat den Boden einigermaßen fest, nahm Spaten und Sack an sich, löste die Fesseln der toten Katze und warf das Tier einfach in den Bach.
Zögernd kroch der Nebel ins Dorf. Nass und kalt. Wo er vorher noch kräftig geschwitzt hatte, breitete sich nun klamme Kälte aus. Ein kurzer, bellender Husten erschütterte ihn. Hastif eilte er nach Hause.
*
Gespannt verfolgte er jede Handbewegung des Pfarrers. Nicht eine Sekunde lang verweilten seine Gedanken bei der Messe. Sein Blickfeld schien, seltsam verengt und eingeschränkt, nur die Mitte des Altars mit dem flach darauf liegenden Altartuch zu erfassen.
Quälend die Momente, in denen ihn sein Husten zwang, den Blick vom Ziel zu nehmen. Besorgt beobachte ihn seine Frau aus den Augenwinkeln. Das kurze, mühsame Luftholen, der fiebrig glänzende Blick, der röchelnde Husten, die zittrigen, fahrigen Handbewegungen, kein Zweifel, ihr Mann war krank. Aber der würde sich keinesfalls ins Bett legen, nicht vor der Vollendung!
Heute Nacht würde es so weit sein! Dann ...
»... in spiriti sancti, Amen!« Segnend, das Kreuzzeichen vollführend, beendete der gütig auf seine Schäfchen blickende alte Pfarrer die Messe.
Vollbracht! Endlich vollbracht! Die letzte Bedingung, das Lesen einer Messe, sozusagen eine Art Rückversicherung durch die christliche Kirche gegenüber den finsteren Mächten, die nun im Bergspiegel zu seinen Diensten gezwungen wurden, war endlich erfüllt! Freudig verließ er die Kirche, dem Opferstock eine reichlich bemessene Spende zukommen lassend.
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Weinend verließ die Bäuerin das frische Grab. Was hatte ihr Mann nun von all seinen Mühen gehabt?
Triumphierend hatte er noch in der Sonntagnacht das heiß ersehnte Kleinod nach Hause gebracht. Sorgfältig hatte er es, zusammen mit dem Buch, in einer kostbaren Holzschatulle in Sicherheit gebracht, nicht, ohne es vorher sorgsam nochmals eigens in ein seidenes Tuch einzuschlagen.
Fünf Stunden später stand der eilends aus Biberach herbeigerufene Arzt vor dem Krankenlager des Bauern. Mit düsterem Blick verließ er kurz darauf das Zimmer.
»Eine Lungenentzündung! Er muss schon länger krank gewesen sein! Hat er seinen Husten nicht beachtet? Warum hat er nie etwas dagegen getan?«
Die Bäuerin schlug verlegen die Augen nieder. Der Arzt nickte verständnisvoll. Er kannte seine Pappenheimer. Lieber liefen sie zu irgendwelchen Wunderheilern und Kräuterfrauen, als dass sie sich den ›Studierten‹ anvertrauten.
»Ich verstehe! Doch es ist zu spät! Sie sollten jetzt den Herrn Pfarrer holen!«
Erschrocken sah die Bäuerin auf. Waren alle Mühen umsonst gewesen? Nachdem der Arzt gegangen war, hatte sie als erstes die Schatulle weit hinter altem, wertlosem Gerümpel auf dem Dachboden verborgen.
Früh am nächsten Morgen hatte ihr Mann sie verlassen. Teilnahmslos nahm sie die Beileidsbezeigungen der Nachbarn und Bekannten entgegen. Ihr Ältester würde den Hof wenigstens schuldenfrei übernehmen. Dafür war gesorgt. Aber vorher musste sie noch den Unglücksbringer aus dem Haus schaffen!
Ein vielstimmiger Schreckensschrei ertönte. Die durchgehenden Pferde erfassten die Bäuerin und schleuderten sie zur Seite. Wie wunderschön doch die weißen Wolken am Himmel sind, dachte sie.
Sie fühlte sich so leicht. Ganz leicht und unbeschwert. Wahrlich, ein goldener Herbst!
*
Finster starrte Karl in sein leeres Bierglas.
»Nun hab Dich nicht so, Karl! Du hast jetzt wirklich genug intus! Normalerweise müsste ich Dir jetzt sogar die Autoschlüssel abnehmen und ein Taxi rufen!«
Der Wirt war recht deutlich geworden. Beruhigend sprachen seine Kumpels auf ihn ein.
»Er hat recht, Karl! Für heute langt's wirklich! Komm, lass uns gehen!«
Sie alle hier im ›Freihof‹ kannten ihn. Karl hatte noch nie ein Glas zuwenig getrunken, eher zwei zu viel! Außerdem war Karl seit ein paar Tagen nicht gut drauf. Schon wieder hatte ihm eine Freundin wegen seiner Trinkerei den Laufpass gegeben. Wütend knallte er das leere Glas auf den Tresen, warf einen Geldschein hinterher und hastete überstürzt zur Tür. Nach dem Qualm in der Kneipe, dem Geruch des Essens, den nach Bier und Schnaps riechenden Fahnen seiner Kumpels, tat die frische Nachtluft geradezu gut. Schlagartig fühlte sich er wieder richtig fit. Von wegen angetrunken und so!
Der Himmel hatte sich bezogen, erste schwere, dicke Regentropfen fielen aus der Nacht und überzogen die Straßen mit dem spiegelnden Widerschein der Lichter aus Häusern und Straßenlampen. Nasses Herbstlaub machte Wege und Fahrbahn glitschig. Der erste kalte Windstoß des nahenden Winters.
Seinen roten Golf GTI hatte er auf dem Parkplatz an der Kirche abgestellt, nur wenige Schritte vom Lokal entfernt. Sein rasanter Start, mit dem er nach links in die Straße einbog, veranlasste ein herannahendes Auto zu wütendem Hupen. Pah, sollte der ihn doch mal! Was der Idiot nur wollte! Es hatte doch gerade so gelangt!
Mit pfeifenden Reifen schoss er durch den Ort, hinaus auf die Landstraße, Richtung Biberach. Dies war seine Nacht, seine Straße, zumindest bis zum nächsten, größeren Ort.
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»Ja, ja, der Karl! Lang geht's nimmer gut! Der bringt sich mit seiner Sauferei und Raserei noch um! Wartet's ab! 's geht nimmer lang!«
Zustimmend nickend tranken sie ihr Bier, während der Wirt besorgt zum Fenster hinaussah. Natürlich hatten sie Karls Start, das wilde Gehupe und seine ausdrucksvolle Fahrweise mitbekommen. Aber wer wollte sich schon mit einem der reichsten Bauernsöhne aus Unterharmersbach anlegen? Sie ganz bestimmt nicht!
Wobei sie im Stillen hofften, dass eine Polizeikontrolle das Problem, zumindest für einen längeren Zeitraum, im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Verkehr ziehen würde. Und dann tranken sie weiter.
*
Huschende Schatten, zuckende Blitze, grollender Donner.
Kaum, dass die Scheibenwischer den Regenmassen trotzen konnten.
Überlaute, dröhnende Musik aus den Lautsprechern. Irgend so ein unverständlicher, Nerven zerfetzender Heavy Metall Song. Karl störte es nicht. Ihn störte heute überhaupt nichts! Sein Golf besaß einen Frontantrieb, der kam nicht ins Schleudern! Erst recht nicht mit einem so versierten und sicheren Fahrer, wie er einer war!
Zwei leichte Bögen, der letzte nach links, dann immer geradeaus zum Sägewerk! Volle Kanne, volle Scheinwerfer, dazu die Breitstrahler. Wenn kümmerte das denn?
Verdammt! Die Brücke! Jetzt schon? Fluchend riss er den Wagen scharf nach rechts, danach, mit protestierend quietschenden Reifen, nach links zurück. Schleudernd, die volle Straßenbreite benötigend, brachte er den schlingernden GTI mühsam wieder in seine Gewalt. Ha! Wer sagt's denn!
Übrigens, waren da eben nicht noch zwei Lichter gewesen? Ein hastiger Blick in den Rückspiegel. Nein! Da war nichts, rein gar nichts zu erkennen.
Während sein Golf über die Brücke gerast war, hatte er zufällig einen kurzen Blick in den Bach geworfen. Verdammt viel Wasser! Nun, es hatte ja in den letzten Tagen heftig und ausdauernd geregnet. Es war nicht das erste und ganz sicher auch nicht das letzte Hochwasser in diesem Tal. Wenn er da reingedonnert wäre! Nicht auszudenken! Trotz der Wärme im Auto durchfuhr ihn ein kurzer, eisiger Schauer. Das Aufflammen der Scheinwerfer entgegen kommender Fahrzeuge, die ihn so plötzlich blendeten, zwangen ihn notgedrungen, sein eigenes Fernlicht abzublenden. Elende Dunkelheit!
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