Deshalb fuhr er, einzig unterbrochen von den vier unseligen Kriegsjahren, seit eh und je in der kalten Jahreszeit als Heizer auf Schleppbooten, eine Knochenarbeit. Er ist heilfroh, in den Sommermonaten diese Schinderei nicht mitmachen zu müssen. Gerade wendet er sich mit vollem Mund an den Vater seines Schwiegersohnes: „Hei´rich, sach mal wie´s de´ momen´an die Auf´ra´sla´e?“ Über das Gesicht des Angesprochenen huscht ein zufriedenes Grinsen, ein Gesicht in dem Wind, Kälte, Sonne und Regen längst ihre sichtbaren Spuren hinterlassen haben, obwohl es noch keine sechzig Lenze zählt. Als er Kurt antwortet, sieht man bei ihm oben rechts eine Zahnlücke. „Ich kann mich nich´ beklagen. In den letzten Jahren hatten wir selten längere Liegezeiten wegen fehlender Ladung und die Frachtraten sind auch stabil geblieben. Ich überleg´ mir g´rad´, unseren Kahn mit ´nem Antriebsmotor auszustatten, so wär´n wir endlich von die Schleppboote unabhängig. Letztes Jahr hab´ ich bereits eine mit Petroleum betriebene Ankerlier auf´m Kahn installiert.“ Inzwischen hat Kurt seinen Kuchenhappen vollständig zu Brei zerkaut. Er schluckt ihn schnell hinunter, um deutlicher reden zu können. „Warum hast du einen solchen Ankermotor nich´ schon viel früher einbauen lassen? Auf uns´ren Schleppbooten werden schon länger dampfgetriebene Ankerliers eingesetzt.“ Heinrich runzelt nachdenklich die Stirn. Er starrt auf seine Kaffeetasse, hebt sie hoch, trinkt aber keinen Schluck. Er setzt die Tasse abrupt wieder ab und erwidert bedächtig, jedes Wort abwägend: „Ja Kurt, eine solche Entscheidung mußte reiflich überlegt werden. Immer schon haben die großen Reedereien unsereiner die tüchtigsten Matrosen weggeschnappt, da wir ihnen halt keine Aufstiegsmöglichkeiten bieten können. Otto, mein ehemaliger zweiter Matrose, der noch bei meinem Vater als Schiffsjunge angefangen hat´, war nich´ sonderlich helle, aber stets fleißig und ehrlich. Als dann die schlimmen Jahre kamen, unzähl´ge Männer ihre Arbeit verloren, wär´ Otto unweigerlich auf der Straße gestanden, hätt´ ich ihn damals entlassen und statt seiner ´ne Ankerlier eingebaut, um ´ne Arbeitskraft einzusparen. Jetzt brummtse, die Wirtschaft, und ´ne Arbeit zu finden, is´ kein Problem mehr.“ Kurt nickt beifällig. Während Heinrich erzählte, hatte er sich einen weiteren Bissen in den Mund geschoben. Erneut könnte er nur nuschelnd sprechen und zieht es diesmal vor, ganz zu schweigen. Heinrich hat sich dagegen warm geredet, ansonsten eher mundfaul, ist er heute ausnahmsweise in der Stimmung, seine Gedanken auch anderen mitzuteilen. Die Frauen und der frischgebackene Vater, die sich mit dem Dorfpfarrer unterhalten haben, sind mittlerweile verstummt und hören Heinrich ebenfalls zu. Dieser spricht, nach einer kurzen Pause, weiter: “Anfangs war ich ja ziemlich skeptisch, ob dieser Hitler seine vollmundigen Versprechen wahr macht, aber ich muß zugeben, der Mann hat mich angenehm überrascht.“ Hedwig wirft ein, man lese in den Zeitungen von der Produktion neuer Panzer, Geschütze und Jagdflugzeuge, sie befürchte deshalb, es könne noch einmal zu einem verheerenden Krieg kommen. Heinrich wischt solche Schwarzmalerei mit einer energischen Handbewegung beiseite und erwidert barsch: „Ach Quatsch, das halt´ ich für ausgeschlossen. Wir besteh´n nur auf unserem guten Recht. Einzig und allein wegen der militärischen Aufrüstung haben´s die Franzmänner hingenommen, daß wir uns das Rheinland zurückholten. Die verdammten Reparationszahlungen sind wir, dank dem Führer, nu´ gleichfalls los. Ich denk´, ohne militärische Stärke hätt´ das nich´ geklappt.“ Kurt, der die letzten Weltkriegsjahre bis zum bitteren Ende als Soldat an der Westfront mitmachen mußte, war bei dem Wort Krieg unmerklich zusammengezuckt. Eben hat er seinen Mund leer geräumt und möchte jetzt auch wieder was sagen: „Verdammter Krieg! Lieber würd´ ich nochmals zehn Jahre am Hungertuch nagen, bevor ich erneut Soldat werden müßt´. Wem die Granaten, die Schrapnells um die Ohren gepfiffen sind und wer die Gasangriffe überlebt hat, wird nie wieder solch ein Inferno riskieren. Hitler war, genauso wie ich, im Krieg ein einfacher Gefreiter. Er hat auch im Dreck der Schützengräben gelegen. Deshalb sag´ ich euch, der will nich´ noch mal so´n Gemetzel!“ Da schaltet sich unvermittelt der junge Pfarrer in das Gespräch ein: „Wir dürfen jedoch keinesfalls vergessen, wie Herr Hitler vehement gegen unsere Mutter Kirche hetzt und unseren Heiland verleugnet. Ich traue diesem Atheisten nicht über den Weg, obschon der Heilige Vater in Rom neulich ein Abkommen mit ihm geschlossen hat.“ Die Mutter von Hedwig, die ebenfalls Ilse heißt und der zu Ehren die Enkelin heute Vormittag den gleichen Namen erhielt, ist ausgesprochen fromm. Sie hat, als strenggläubige Katholikin, stets das Zentrum gewählt. Auf ihren eindringlichen Wunsch hin war der Priester auch zum Kaffee gebeten worden. Aber jetzt ermahnt sie den Kirchenmann: “Hochwürden, nachdem sogar Prälat Kaas und die deutschen Bischöfe den Nationalsozialisten die Hand gereicht haben, sollten Sie nich´ gar so mißtrauisch sein. Bestimmt erbarmt sich unser allmächtiger Herrgott und leitet den Führer bald auf den Pfad des Glaubens zurück.“ Die Schwester von Heinrich hält den Zeitpunkt nun für gekommen, ebenfalls ihre Meinung anzubringen. Sie ist unverheiratet und versorgt seit dem frühen Tod ihrer Schwägerin den brüderlichen Haushalt. „Ich find´ es ausgesprochen schad´, daß man den Kaiser verjagt hat.“ Und nach einem unüberhörbaren Seufzer verkündet sie resignierend: „Ach wär´ das schön, wenn wir noch unser´n Wilhelm hätten.“ Die Runde diskutiert weiter, über die politischen Verhältnisse, kommt dann aber bald auf die alltäglichen Nöte zu sprechen. Kurt fragt Heinrich, wann er denn gedenke, seine Zahnlücke schließen zu lassen. „Ooch“, erwidert dieser gedehnt, “das kann warten. Ich mußte letzten Winter einen großen Teil meiner Ersparnisse für ´ne dringende Instandsetzung des Schiffes verwenden. Es wär´ doch unverantwortlich, unser Bares für solch´ ´ne Nebensächlichkeit zu verschwenden.“ Hans, der frischgebackene Vater, ist unterdessen aufgestanden. Er geht voller Elan hinüber zur Wiege. Dort liegt der Täufling unter einer schützenden Wolldecke und brüllt sich gerade nach Kräften die Seele aus dem Leib. Hans hebt sein Töchterchen hoch, wiegt es bedächtig in den Armen. Aber dieses Schaukeln zeigt bei dem Säugling nicht die gewünschte Wirkung, es plärrt ohrenbetäubend weiter. Mit leicht genervtem Gesichtsausdruck erhebt sich Hedwig, nimmt ihrem Mann das Kind vorsichtig aus den Armen und geht mit dem Schreihals nebenan in die Küche. Die entstandene Unruhe benützt Kurt, um zum Aufbruch zu mahnen. „Komm Ilse“, sagt er ungeduldig zu seiner Frau, „unser Zug fährt in ´ner knappen Stunde. Bis zum Bahnhof laufen wir mindestens dreißich Minuten.“ Mit bekümmerter Miene erwidert sie auf das Drängen ihres Mannes: „Ach du meine Güte, ich hab´ gar nich´ auf die Uhr geschaut. Die Zeit is´ mal wieder rasend schnell vergangen, aber wir treffen uns ja eh so selten.“ „Da hast du ein wahres Wort gesprochen, liebe Schwiegermutter“, meint Hans. „Besonders die letzten zwei Monate hat dich Hedwig arg vermißt. Ich konnt´ in der langen Zeit nur ´nen einzigen Tag hier sein. Es war wie verhext, wir hatten ständig nur Frachtaufträge zwischen Duisburg und Rotterdam.“ Die Miene von Ilse verdüstert sich kurz, als sie antwortet: „Ich weiß, ich weiß. Hedwig hätt´ mich gern öfters bei sich gehabt. Aber Sieglinde bekam, wie ihr wißt, fast zur selben Zeit ´nen Sohn und es sah ganz danach aus, daß sie das Kind verliert. Ihr Mann reist als Vertreter ja auch dauernd durch die Gegend und is´ deshalb nur selten zu Haus´. Meine ältere Tochter war vollkommen auf sich allein gestellt. Ihr habt ja, Gott sei Dank, Henriette.“ Bei diesem Satz greift Ilse dankbar nach einer Hand von Henriette und hält sie fest umschlossen. Heinrichs Schwester fühlt sich geehrt, man merkt ihr aber deutlich an, wie verlegen sie wird, denn selten würdigt jemand ihren Einsatz für die Familie. „Eine Mutter“, sagt Henriette bescheiden, „kann man schwer ersetzen. Jedoch versteh´n Hedwig und ich uns ausgezeichnet.“ Heinrich unterbricht seine Schwester, da ihm das Ganze zu sehr ins Sentimentale abzugleiten droht: „Ich möcht´ euch ja beileibe nicht drängen, aber ich denk´ es pressiert langsam, wenn Kurt und Ilse den Zug noch ohne Hetze erreichen wollen. Wie wär´s, wenn Hans euch zum Bahnhof begleitet?“ Kurt antwortet, das sei zwar gut gemeint, aber unnötig, zumal sie keinerlei Gepäck zu tragen hätten und ergänzt: „Überhaupt war´s schon ausgesprochen nett, daß ihr uns vom Bahnhof abgeholt habt.“ Hans, so meint er weiter, solle besser zuhause bei Hedwig bleiben, die ihn in letzter Zeit doch wirklich selten gesehen habe und bestimmt nicht glücklich darüber wäre, wenn er seine knapp bemessene Freizeit nun mit den Schwiegereltern verplemperte. Man einigt sich nach kurzem hin und her, daß Heinrich die beiden zum Zug begleiten wird.
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