In ihren dunklen Augen war wieder ein Hoffnungsschimmer. „Und? Kommst du mit?“
Nur eines ließ ihn zögern: Auch Decgalor hatte er etwas versprochen. Er hatte sich vorgenommen, ihm zu helfen, und er erwog dieses Ehrenwort in Abydos zu halten.
Semiris weckte ihn aus seinen Überlegungen. „Weißt du, ich war mein Leben lang eine Sklavin. Als kleines Mädchen habe ich das nicht einmal besonders schlimm gefunden. Erst als ich mich körperlich zur Frau entwickelte, begriff ich, worin das Leid der Sklavinnen wirklich besteht. Dabei hatte ich mit einem Tattergreis wie Nikia noch Glück. Ich musste ihm zu Willen sein – sicherlich, aber er achtete mich doch. Und was sich kürzlich auf diesem Schiff abgespielt hat, flößt mir Angst ein. Dieser verlotterten Meute ist alles zuzutrauen und ich möchte nicht durchmachen, was Kirsa mit Sanherib widerfuhr. Eher sterbe ich. Wo ist Kirsa? Ich weiß, sie lässt mich nicht alleine fliehen.“
Es vermittelte Houke das unbestimmte Gefühl, ob er mitkam war für sie eher unerheblich. „Wir müssen mit allem rechnen“, versuchte er sie auf das Schlimmstmögliche einzustimmen.
„Was meinst du?“ Semiris Gesichtsfarbe wurde fahl.
„Ganz einfach, ich frage mich, warum Sanherib zwar wieder bei den anderen mitmischt, aber kein Sterbenswörtchen über sie oder ihren Verbleib verliert? Hiram findet es nicht der Rede Wert und schweigt sich mir gegenüber aus. Außerdem kränkt es mich, von dir zu hören, du würdest auch ohne mich die Flucht wagen.“
Es ärgerte Houke sogar mehr als er zugab, und Semiris sah es ihm an.
„Woher sprichst du ihre Sprache?“, fragte er zerknirscht.
„Sie gelangte über eine der Karawanenstraßen in unsere Welt und wir wohnten zwei Jahre unter dem selben Dach“, lautete ihre plausible Antwort. „Nikia ersteigerte sie am gleichen Tag wie mich, und zwar als Gespielin für seine halbwüchsige Tochter. Diese verzogene Göre fand schnell heraus, dass Kirsa ihr ausschließliches Eigentum war. Es machte ihr Spaß, konnte sie ihrem Eigentum am Haar ziehen oder mit ihren scharfen Nägeln ins Bein kneifen. Den größten Spaß bereitete es ihr, sich rittlings auf ihrem Nacken tragen zu lassen. Sie ist ein dickliches Kind, und Kirsa musste dann auf den Wegen rund um die Blumenbeete herumwandern, immer wieder rundherum. Blieb sie stehen, brüllte ihre Herrin das ganze Haus zusammen. Es war für keinen im Schlafhaus ein Geheimnis, dass sie in einem unserer stattlichsten Sklaven, der aber eher ein wenig beschränkt war, einen Verehrer hatte, und der fuhr dazwischen, als die böse Blage sie wieder einmal quälte. Man kreuzigte ihn dafür, ein Kind angefallen zu haben, und Kirsa hielt seitdem unsere Latrine sauber.“
Gegen Nachmittag fand sich wider Erwarten Archaz noch einmal am Heck ein, aber er enttäuschte sie. „Bedun, du und ich“, weihte er Houke ein, „sollen uns mit der Wache für den Gefangenen ablösen.“
„Du bist jetzt dran?“, fragte Houke. „Dann lass uns tauschen.“
So kehrte er nach sechs Stunden zurück zu der von früher vertrauten Kammer. Als er dem Atlanter ihre Fluchtpläne verriet, wurde der hellhörig.
„Ich habe nachgedacht über deinen Rat. Ich denke, ich werde mich einsichtig zeigen und für eine Weile der Bruderschaft beitreten. Aber jetzt noch nicht. Erst will ich diesen Unterschlupf für Räuber und Beutelschneider gesehen haben. Wo ich war, dahin finde ich zurück. Mein Strafgericht wird über diesen Ort kommen, so wahr ich die Macht dazu habe. Die Hand soll mir verdorren, sollte mir von den Leuten dieses Schiffes einer entwischen.“
„Warum willst du dich so lange von Brot und Wasser ernähren?“, fragte Houke erstaunt. „Du könntest leben wie ein König, wenn du ihnen sagst, du willst ein Schwertfischer werden.“
„Ich will mehr sehen, dessen ich sie anklagen kann“, gab ihm der Atlanter im Flüsterton zu verstehen. „Und keiner wird mir hinterher nachsagen, ich hätte selber mit Leib und Seele bei ihren Kaperfahrten mitgewirkt.“
Entgegen dem Gerücht legten sie nicht in Abydos an, und in Theben auch nicht. Beim nächsten Mannschaftstreffen am Mast gewann der Sarde. Houke opferte den Siegelring des Hebräers und sein gesamtes Silber, damit der bittere Kelch nochmal an Semiris vorüber wanderte.
In Ombos warfen sie zwar den Anker aus, doch zogen Hasdrubal und Hiram allein los. Sie nahmen den für umfangreiche Besorgungen vorgesehenen Handwagen mit und trieben zu den beiden Säcken voll Gerste, die als Nahrungsgrundlage dienten, einen Korb voll Feigen auf, Fladenbrot und Dörrfisch. Die ganze Zeit über hoffte Houke, Kirsa wiederzusehen, aber sie tauchte nicht auf. Semiris zog den Schluss: „Und wenn der Assyrer Kirsa umgebracht hat?“
Da Houke ihr die Antwort schuldig blieb, stieß sie ihn an und wollte zum Anleger schwimmen, doch Houke fasste nach ihrem Arm und drehte sie zu sich um. „Und wenn sie doch noch lebt“, fragte er leise, obwohl er in der Hinsicht so wenig Hoffnung hegte wie sie.
Später, als der Tag zur Neige ging, hielt er wieder Wache vor Hasdrubal’s Kammer, und die Gelegenheit war vorüber. Semiris, die gleich matt in den Korbsessel sank, atmete bald gleichmäßig wie ein Säugling in der Wiege. Die letzte Nacht unter offenem Himmel war sie über ein kurzes Einnicken nicht hinausgekommen. Jetzt schlief sie endlich.
Houke betrachtete ihr friedliches Gesicht mit der neckischen Spitznase. Je länger er sie um sich hatte, desto mehr fühlte er für sie. Zu wissen: sie würde die Flucht auch mit Kirsa versuchen, zehrte an seiner Eitelkeit. An Mut hätte es ihm nicht gemangelt, aber das Dasein unter dem Stern der Besitzlosen hatte ihn geformt und in einen Mann mit Prinzipien verwandelt.
Der Atlanter nahm es leicht, als er erfuhr, sie hätten nun auch Ombos hinter sich gelassen.
„Ombos?“, wiederholte er fragend. „Da liegt doch irgendwo die Kurkur-Oase. Mein Freund, wärst du dort geflohen, hättest du den Steinbauch vor dir gehabt – eine Wüste, die keiner lebend durchquert, der nicht dort geboren ist. Du musst Geduld haben. Auf seine Rache sollte man sich freuen, dann kommt auch der Tag dafür.“
Houke dachte sich seinen Teil und gab nicht auf, erzählte ihm, warum sie Kirsa seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekamen. „Der Assyrer hat sie vor allen Leuten mit Gewalt genommen, und ich bin machtlos gewesen. Wie soll ich ihr jemals wieder in die Augen schauen?“
Er räusperte sich, weil seine Stimme so heiser klang. „Meiner armen Semiris steht dasselbe bevor“, beteuerte er. „Sanherib und der Sarde sind die Besten im Wurf nach dem Strich. Keiner von beiden lässt sich noch einmal vertrösten, das ist gewiss. Die Mannschaft hat die Schacherei mitbekommen und wird nicht zulassen, dass ich noch einen Aufschub heraushole. Dann geht es Semiris schlecht. Nehmen die sie mir weg, kann ich ihr so wenig helfen wie Kirsa.“
Er holte tief Luft, ehe er hinzufügte, „und du sagst, du bist mein Freund. Du könntest es verhindern! Was ist denn daran falsch, wenn du diesem Mörderpack etwas vorspielst? Das ist doch lediglich eine Sache des Ehrgefühls. Andere Menschen verschwenden keine Gedanken an so etwas. Eine Frau, der man Gewalt antut, leidet ganz anders, und Semiris sagt, sie möchte lieber sterben, wenn es sich wirklich nicht abwenden lässt.“
All das sprudelte aus ihm heraus, und es wurde still hinter der Tür. Dann sagte Decgalor : „Ruf mir euren Anführer und melde ihm, ich will mit ihm reden.“
Houke begab sich mit Semiris an Deck und übermittelte die Neuigkeit, dann stellten sie sich zu Archaz, der mit verschränkten Armen unter der Heckflosse stand. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ließ sie der Freund aus früheren Tagen allein. Doch Houke hatte nichts anderes erwartet. Die Abendsonne glich heute einem Feuerball und war dabei, hinter den indigoblauen Konturen des Gebirges zu versinken. Sie tauchte die Dünenketten der davor liegenden Wüste in ein unheimliches Rotlicht, bei dem Abergläubige eine Nacht der Dämonen witterten und mancher nahendes Unheil ahnte.
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