Keinen Deut interessierte es Semiris, trotzdem nickte sie verständig. Da erhob sich eine Stimme mit einem scharfen Akzent aus der Kammer, in der sie die letzten Tage verbrachten. „Kindergeplapper! Gäbe es kurze oder lange Stunden bräuchte der Mensch sich nicht den Tag in Stunden einzuteilen.“
Pollugs zog die Stirn kraus und war mit zwei Schritten an der Tür. „Na das überrascht mich, unser Gefangener kann reden wie wir.“
„Der Tag hat 24 Stunden“, erklärte der Fremde. „Um diese Jahreszeit gehören der Sonne ungefähr fünfzehn bis sechzehn Stunden und der Nacht höchstens 9. Nach der Sonnenwende werden die Nächte dann täglich länger.“
Houke nickte bei sich, weil es einleuchtete, und die klare Stimme jenseits der Tür stellte fest, „du bist kein Dummkopf. Welcher Dämon hat dir eingeflüstert, dich diesem Abschaum anzuschließen?“
„Ich gehöre zwar zu denen, die dein Schiff überfielen“, erwiderte Houke befangen. „Aber ich fühle mich der Bruderschaft so wenig verbunden wie einem Rudel Schakale. Es war bei mir wie bei dir. Mache mit oder stirb, hieß es, und ich wollte leben.“
Der Fremde begriff rasch, Houke konnte kein schlechter Kerl sein. „Ich muss fliehen“, flüsterte es hinter der Tür. „Helft ihr mir?“
„Wenn wir dir helfen droht uns selbst der Tod“, gab ihm Pollugs unverhohlen zu bedenken. „Die Regeln der Bruderschaft sind nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich werde mich hüten, daran zu rütteln.“
„Helft mir, zu fliehen, und ich verspreche euch, ihr geht straffrei aus.“
„Bist du so mächtig?“
„Das will ich meinen. Mächtiger als du ahnst“, entgegnete der Fremde forsch. „Ihr habt schon von dem Sperrturm gehört, der die Meerenge bewacht?“
„Ja“, schaltete sich wieder Pollugs ein, da Houke die Achseln zuckte.
„Ich gehöre dem Seevolk an, das ihn erbaute.“
Pollugs stutzte. „Du bist ein Atlanter?“
„Ja, und einer, von dem du noch hören wirst.“
„Unglaubhaft“, knurrte Pollugs.
„Ist aber so.“
„Na auf die Erklärung sind wir gespannt“, flüsterte Pollugs zwinkernd Houke zu.
Der Atlanter hatte sein auf Ablehnung beruhendes Schweigen überwunden und schöpfte offenbar Hoffnung. „Ganz einfach. Der höchste unter den Herrschern des Westens wird demnächst sechzig. Ich wollte ihm ein ganz besonderes Geschenk machen. Dafür streunte ich ein halbes Jahr in der Welt umher. Mein letzter Hafen vor Memphis war Ophir an der Küste des Landstrichs, den die Egypter Saba nennen und die Afrikaner Punt. Dort ist es mir gelungen, für eine Hand voll Perlen einen lebendigen Tiger einzutauschen und für vier Rubine die Feluke mit fünf Egyptischen Seeleuten, die dann von euch aufgebracht wurde.“
„Und wie seid ihr auf den Nil gelangt?“, wollte Pollugs wissen.
„Ich weiß nicht“, klang es etwas gelangweilt aus der Kammer, „was du von der Welt weißt. Ein Egyptischer Pharao, der lange vor uns lebte, verfiel einst auf die Idee, einen Kanal auszuheben, über den man vom Delta des Nils in die Sudische See segeln kann. Der Weg war über drei Menschenalter versandet und geriet in Vergessenheit, aber Ramses der II. hat das Kanalbett wieder schiffbar gemacht und sogar verbreitert.“
Pollugs schnappte vor Jahren ein Gerücht auf, das ähnlich klang und fing an, dem Gefangenen zu glauben. „Du meinst“, folgerte er, „die Bestie im Laderaum ist für den Herrscher des Westens bestimmt gewesen?“
In dem Moment kam Sanherib die Stiege hinunter. „Suteman braucht dich oben“, sagte er kalt. „Ich übernehme die Wache.“
„Wir reden nachher weiter“, flüsterte Pollugs an die Tür und erwiderte Sanheribs schroffe Miene mit einem entnervten Blick, da die beiden einander seit langem Spinnefeind waren. Nach ihm betrat auch Houke ernst das hintere Deck, wo sich die Mannschaft zusammengerottet hatte.
Suteman schien auf ihn gewartet zu haben. „Wie ihr wisst, fällt Hasdrubal für den nächsten Mondlauf aus“, erklärte er und fasste Pollugs in die Augen. „Deshalb übernimmst du die Ruderpinne.“
Ohne mehr dazu hören zu müssen begab sich Pollugs auf den Kasten, unter dem sich die Ruderbänke reihten. Das war der Platz des Steuermannes, und Houke, gefolgt von Semiris und Kirsa, leistete ihm Gesellschaft, während er das Ruder übernahm und sie unablässig stromauf segelten.
„Memphis ist das Herz des Niltals“, schwärmte Pollugs. „Man spürt die Jahrtausende, die das alles schon so währt.“
Houke stutzte. „Manchmal sagst du Dinge, die ich einfach nicht verstehen kann.“
Je länger er bei seinem Freund stand, desto mehr empfand er nach, was der meinte. Er meinte nicht die goldbraunen, mit silbergrauer Patina überzogenen Berge. Eher die sich davor unter flimmernder Hitze erstreckenden Getreidefelder, die sich abwechselten mit Palmenhainen und Zitronenbäumchen. Es waren die regelmäßig vom Nil abzweigenden Kanäle oder besser, das professionelle Bewässerungsnetz und die alljährlichen Überschwemmungen, was das Pharaonenreich zur Kornkammer der Welt machte. Sattgrüne Arkazien beschatteten Alleen und trennten die breitflächigen Äcker, auf denen mit Getreide bepackte Esel zu den Dreschplätzen trotteten.
Auf einmal fing Kirsa an zu singen. Ihre samtige Stimme mit dem quakigen Unterton verbreitete eine wohltuende Ruhe und war Balsam für die Seele. Einige hoben verdutzt den Kopf, andere gingen in sich, wo sie eben saßen. Keiner außer Semiris wusste, sie sang von einer Ziegenhirtin und ihrem Herren, der sie Mal um Mal erweichte, indem er ihr ein Leben in Freiheit versprach. Eine traurige Weise, und Semiris übersetzte es Houke leise.
Weil sich bei Pollugs die beiden einzigen an Bord befindlichen Frauen aufhielten, bildeten sie seit dem Wechsel am Ruder einen Unruheherd auf Deck. Pollugs beobachtete argwöhnisch, wie Hiram die Leute für sich einnahm und drohende Blicke zum Baldachin sandte, oder auf sie, da sie sich ja aus deren Sicht dahinter aufhielten. „Die syrische Natter hetzt schon wieder“, entfuhr ihm.
„Auf uns?“, fragte Semiris betroffen.
Um Pollugs Mundwinkel zuckte Unbehagen. „Der will die Macht an Bord. Das gilt Suteman“, rief er Houke ins Gedächtnis. „Und ich möchte nicht in seiner Haut stecken.“
Kirsa war in ihrem Gesang verstummt. Semiris schaute schwermütig zum Ostufer, wo sich binsengedeckte Lehmhütten am Schilfstrich drängten und sich an der von Dattelpalmen überschatteten Umgatterung der örtlichen Speicherschlöte eine Menschentraube staute. „Wann kommt endlich Memphis“, seufzte sie und nippte an ihrer Oberlippe. Wie um sich zu vergewissern, ob sie auch Grund hätte, sich darauf zu freuen, betrachtete sie Houke, und der tastete, wie meist, wenn er verlegen wurde, nach seiner Nase. Augenblicklich wandelten sich Haltung und Gesicht und gaukelten ihr Entschlossenheit vor. Aber ihm wurde bewusst, er riskierte seinen Hals bei diesem Vorhaben.
„Wenn…ich mit dir abhaue“, forderte er, „musst du mir auch nach Aschkelon folgen.“
Verdattert rieb sich Semiris die Stirn. „Wir kennen uns ja kaum.“
Er nahm es als Aufforderung, von den Umständen zu berichten, die ihn veranlassten, sich auf Planken zu begeben, ebenso von seinem verschollenen älteren Bruder, dem in die Wiege gelegt schien, einst in die Führung des Unternehmens hineinzuwachsen, doch soff sein Schiff kurz vor dem Pessach-Fest mit Mann und Maus ab. Das lag zwei Jahre zurück, und der Gram darüber war seinem Vater oft anzumerken gewesen.
„Mein Großvater“, erinnerte er sich, „zählte zu denen, die sich noch Dromedare aus der Wüste lockten, um sie zu zähmen. Und er hatte den richtigen Riecher, denn das Kamel als Lasttier revolutionierte die Logistik und ermöglichte Karawanen einer ganz anderen Größenordnung. Jedenfalls baute mein Vater mit dem dadurch erworbenen Vermögen seinen Gewürzhandel auf. Mir oblag es“, fügte er hinzu, um sich nicht völlig unter den Scheffel zu stellen, „beim Karawanen-Rastplatz ein Auge auf die eintreffenden Händler zu werfen und die zuhause anzubringen.“
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