"Aber dann seh ich aus wie eine Stewardess." Molly war mittlerweile schon fast verzweifelt, doch Brigid ließ sich nicht erweichen. "Was hast du gegen Stewardessen? Die sind bei Männern sehr beliebt und in der Regel ziemlich attraktiv. Also hab dich nicht so, sondern geh lieber duschen. Ich überleg mir derweil was für deine Haare, denn so kann das bestimmt nicht bleiben." Unwillkürlich griff sich Molly in ihre dicken Locken. "Du wirst sie doch nicht abschneiden, oder? Brigid? Wehe, wenn du mir die Haare abschneidest! Das würde ich dir sehr, sehr übel nehmen, das wär eine Kriegserklärung. Ich würde nie wieder ein Wort mit dir reden. Nie wieder, verstanden?"
"Abschneiden? Warum sollte ich? Ich bin doch keine Friseuse. So ein Quatsch. Frisieren werde ich dich – irgendwie. Damit man überhaupt etwas von deinem Gesicht sehen kann, du Schaf. In der ganzen Wolle gehst du ja völlig verloren. So, nun aber husch, ab ins Bad. Mach schnell, sonst bist du nicht fertig, wenn er dich abholt. Du hast nur noch eine dreiviertel Stunde."
***
Verstohlen musterte Steven Jacoby immer wieder seine Begleiterin. Eigentlich sah sie gar nicht so übel aus, wenn man sie genauer betrachtete. Naja, die Kleidung war nichts Besonderes und die Frisur erinnerte ihn irgendwie an ein ziemlich flauschiges Vogelnest. Aber sie war hübsch, ihre Figur war ganz okay und sie hatte Humor. Der Abend könnte weitaus unangenehmer sein.
Stevens Überlegungen wurden vom Kellner unterbrochen, der den exquisiten Hauptgang ihres Menüs servierte. Mollys Gesichtsausdruck wechselte von neugierig zu komisch verzweifelt. "Jetzt weiß ich, warum die meisten wirklich reichen Leute dünn sind." Murmelte sie leise vor sich hin, als sie die winzige Portion auf ihrem Teller begutachtete. Das fantasievoll angerichtete und garantiert unglaublich leckere Saltimbocca würde tatsächlich nur einen einzigen Gabelhüpfer benötigen, um in ihrem Mund zu verschwinden. Steven presste sich die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. Und auch der Kellner sah aus, als müsste er sich das Lachen verbeißen.
Kaum war er wieder verschwunden, flüsterte Molly verschwörerisch in Stevens Richtung. "Allein für den Preis einer Vorspeise hätten wir beide bei Gino’s Pizza am Hafen so viel essen können, dass wir fast geplatzt wären. Ganz ehrlich, Mr. Jacoby, das Restaurant ist toll. Und es ehrt mich sehr, dass Sie mich hierher eingeladen haben. Aber ich fürchte, ich werde heute Abend noch irgendwas Handfestes essen müssen, sonst kann ich vor Magenknurren nicht schlafen."
Damit war's um Stevens Beherrschung geschehen. Er lachte laut auf, so laut, dass einige der anderen Gäste irritiert in seine Richtung schauten. Doch das war ihm völlig egal. Er genoss es tatsächlich aus vollen Zügen, mit Molly Flannagan zusammen zu sein. So viel gelacht hatte er seit Jahren nicht. Sie war so unglaublich erfrischend und absolut ehrlich, so ohne einen Funken Gemeinheit oder Berechnung, dass er sich vollkommen entspannen konnte. Ein Wunder bei den Problemen, die ihn im Moment beschäftigten. Und noch verwunderlicher, da er ja eigentlich nur mit ihr ausgegangen war, um sie von dem falschen Frachtbrief abzulenken. Offenbar hatte er etwas entdeckt, das er gar nicht gesucht hatte. Steven wurde unvermittelt klar, dass er dieses Etwas gerne behalten würde.
Drei Wochen und sechzehn Treffen mit Molly später nahm er all seinen Mut zusammen und machte ihr einen Heiratsantrag. Und Molly sagte Ja, bevor er sich's anders überlegen konnte.
Nachdem sich die Frachtbriefe ohne genauere Angaben häuften, aber immer vom Zoll abgezeichnet wurden, machte sich Molly auch darum keine Gedanken mehr.
Die Männer sind nicht immer, was sie scheinen,
allerdings selten etwas Besseres.
(Queen Victoria)
Thanksgiving - Truthahn-Tag.
Während sich der Rest der Familie bereits an dem großen Tisch im Esszimmer versammelt hatte, die Gabeln kampfbereit hielt und die Messer wetzte, zog Molly mit einem angestrengten Ächzen den knusprig gebratenen Riesenvogel aus dem Ofen. Nachdem sich die Dampfschwaden etwas gelegt hatten, musterte sie das Ergebnis ihrer Bemühungen und musste breit grinsen. Genial, einfach genial.
Sie hielt sich ganz bestimmt nicht für eine überragende Köchin, eher für eine mittelmäßige. Aber was ihr an Können fehlte, machte sie durch Einfallsreichtum wett. Und diesmal hatte sie sich selbst übertroffen. Das hier war Food-Tuning vom Feinsten.
Während sie mit einem Ohr der Unterhaltung nebenan lauschte, wo ihre Schwester Brigid gerade ihre Brüder Patrick Junior, Brian und Daniel mit dem gleich anstehenden Kampf um die Keulen aufzog, stach Molly kichernd vorn und hinten eine lange Fleischgabel in den Truthahn und verfrachtete das immer noch brutzelnde Geflügel vorsichtig auf die große Servierplatte. Sie unterdrückte das Lachen, das ihr in der Kehle saß, und bemühte sich krampfhaft um eine ersthafte Miene, bevor sie die Platte ächzend nach nebenan brachte und mitten auf den Tisch stellte.
"So, bitte schön, Daddy. Walte deines Amtes." Patrick Flannagan Senior, bereits bewaffnet mit einem Tranchierbesteck, erschnupperte den verführerischen Duft des Truthahns, warf einen anerkennenden Blick auf die wunderbar braune Haut des Vogels, schnaufte zufrieden auf und wollte gerade zur Tat schreiten, als er stutzte und sich insgeheim fragte, ob ihm seine Augen einen Streich spielten.
Verstohlen warf er einen Blick auf seine Tischnachbarn, die ebenso verblüfft auf den dampfend-heißen Braten starrten. Vier Keulen. Das Vieh hatte vier verdammte Keulen. "Was …?"
"Das ist eine neue Züchtung, Daddy, aus Iowa, glaube ich. Die nennen das Familientruthahn für Keulenliebhaber. Ich dachte mir, das passt doch ganz gut. Wo ihr Jungs, bis auf Martin, doch alle so verrückt danach seid. Dann müsst ihr euch nicht wieder wie die Urmenschen darum streiten, wer von euch vier die zwei Keulen futtern darf."
Mollys mühsam beherrschte, todernste Miene drohte zu entgleisen, als ihre Mutter am anderen Ende des Tisches auf einmal laut kicherte und schließlich in schallendes Gelächter ausbrach. Als Mollys Schwester Brigid und ihr Ehemann Martin ebenfalls laut loslachten, war es vorbei mit ihrer Beherrschung und auch Molly prustete los. Die verdutzten Gesichter ihres Vaters und ihrer drei Brüder waren einfach zu komisch.
"Iowa, nein, sowas aber auch. Das ist einfach göttlich, Mollyschatz, einfach göttlich." Moira Flannagan wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln und versuchte verzweifelt, wieder ernst zu werden. Das brüllende Gelächter rundum machte ihre Bemühungen allerdings schnell zunichte. Erst als ihr der Bauch vor Lachen schmerzte, bekam sie sich langsam wieder unter Kontrolle.
Schniefend und glucksend ging Patrick Senior endlich ans Werk, ließ sich die Teller reichen und verteilte die Fleischbrocken an die hungrigen Mäuler, wobei seine Hand mit der großen Serviergabel mehrfach so stark bebte, dass ihm die Stücke fast von der Gabel gerutscht wären. "Wie hast du das gemacht, Molly? Und erzähl mir nicht nochmal den Quatsch mit Iowa."
"Ich hab die Flügel abmontiert – die will doch eh keiner - und die Extrakeulen dran genäht. Deshalb passt bitte auf, dass ihr nicht aus Versehen das Nähgarn mitesst. Ich hoffe, ihr wisst das zu würdigen. War eine Sauarbeit." Mit einem Kichern nahm sie ihren Teller mit einem Bruststück entgegen. "Aber ganz ehrlich … eure dummen Gesichter zu sehen, das war die Mühe eindeutig wert." Molly ging in Deckung, als ihr vier Stoffservietten an den Kopf flogen.
"Na warte! Irgendwann, wenn du nicht mehr damit rechnest, kriegst du das zurück. Hundertfach." Die zwischen zwei Happen Truthahnkeule und dem Herauszupfen des Nähfadens ausgesprochene Drohung ihres jüngsten Bruders Daniel ging in der allgemeinen Heiterkeit unter. Patrick Senior und Moira Flannagan warfen sich quer über den langen Tisch einen Blick zu, der all das ausdrückte, was sie in diesem Moment dachten. Glücklich waren sie beide, glücklich, eine solch wundervolle Familie gegründet zu haben, in der Lachen und Fröhlichkeit das manchmal schwierige Leben erträglich machten. Nein, nicht nur erträglich, sondern lebens- und liebenswert.
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