treibt und in die Hürde sperrt. Im allgemeinen wird
sich allerdings, da es sich ja bloss um zwei verschiedene
Seiten der Volksdichtung handelt, eine Wechselwirkung
zwischen Epos und Märchen nicht ableugnen
lassen, und die Grenzbestimmung des beiderseitigen
Einflusses wird nicht immer leicht sein. Gleich dasjenige
Märchen, welches unsere Sammlung eröffnet,
»Die Brautfahrt des Schmiedes Ilmarinen«, ist aus
Zügen der Kalevala zusammengesetzt. Die beiden im
Märchen nicht näher bezeichneten Freier, die mit Ilmarinen
zusammen auftreten, sind natürlich Niemand
anders als Väinämöinen und Lemminkäinen. Die Vorbereitungen
Ilmarinens zur Brautfahrt stimmen sehr
genau zu der Erzählung in der achtzehnten Rune des
Epos: dort heizt ihm die Schwester Annikki (im Märchen
die Mutter) zuerst die Badestube, bringt ihm
dann Leinenhemd, Unterkleider und Strümpfe, und
der Knecht spannt dann das schnelle Füllen vor den
buntgeschmückten Schlitten (V. 383 ff.). Wie in unserm
Märchen, bekommt im Epos Ilmarinen drei Aufgaben
(19. Rune); die erste derselben, das Umpflügen
des Schlangenfeldes, ist dem Epos und dem Märchen
gemeinsam.23 Die beiden andern Aufgaben stimmen
nicht überein; doch lässt sich für die dritte, wo Ukko
Untamo Ilmarinen verschluckt und dieser in seinem
Magen sich eine Schmiede einrichtet, an die 17. Rune
der Kalevala anknüpfen, wo Väinämöinen von Vipunen
verschluckt wird und ihn durch Hämmern und
Schmieden in seinem Leibe so lange quält, bis er ihm
seine ganze Weisheit vorsingt. Im Epos wird Ilmarinen's
Frau von Kullervo's wilden Thieren zerrissen; er
schmiedet sich dann aus Gold und Silber eine andere
Frau (Pygmalion!); als er am Morgen, nachdem er bei
ihr geruht, erwachte, war die der Jungfrau zugewandte
Seite kalt. Nach diesem verunglückten Versuche raubt
er aus Nordland die jüngere Schwester seiner ersten
Frau, die ihn unterwegs beschimpft und dafür von
ihm aus Zorn in eine Möwe verwandelt wird (37. und
38. Rune). Beide Züge enthält auch unser Märchen,
aber in umgekehrter Reihenfolge; hier wird die erste
Frau, die sich Ilmarinen durch Verwandlungen dreimal24
entziehen will, in eine Möwe verwandelt,
schliesslich aber, als das Experiment mit der kupfernen
Frau misslungen ist, wieder zum Weibe gemacht.
Ich will diese einleitenden Bemerkungen nicht
schliessen, ohne darauf hinzuweisen, dass die finnische
Litteraturgesellschaft neuerdings sich wieder in
hervorragender Weise der Sammlung der Volksüberlieferungen
zugewendet hat. Ich kann darüber aus
einem in der französischen Zeitschrift »Mélusine«25
abgedruckten Briefe von Hrn. Eliel Aspelin und aus
einem an die Uebersetzerin gerichteten Briefe von
Hrn. J. Krohn das Folgende mittheilen. In alle Theile
des Landes sind in den letzten zehn Jahren Sammler
geschickt worden, die sich besonders des neuen Hilfsmittels
der Stenographie für ihre Aufzeichnungen bedienen
konnten. So haben die Herren Borenius, Genetz
u.A. eine grosse Menge Varianten zum National-
epos gesammelt, deren Redaction den Herren J.
Krohn und Borenius anvertraut worden ist.
Der erstere hat auch eine umfassende historisch-aesthetische
Studie über das Epos zu veröffentlichen begonnen.
Herr Aspelin besorgt eine neue Ausgabe der
Sprichwörter, die seit Lönnrot von etwa 7700 auf
10000 bis 11000 gestiegen sind. Herr Porkka hat eine
ungemein interessante Sammlung von »Thränenliedern
«, von denen sich bei Lönnrot nur wenig Proben
fanden, vorbereitet. Viele lyrische Gedichte, Zauberlieder,
Zauberformeln aus dem wenig civilisirten
Nord-Osten des Landes sind zusammengebracht; Borenius
hat auch Melodien epischer Lieder aufgezeichnet.
Auf Märchenjagd gingen unter Andern die Herren
Sjoeros, Mustakallio und Karl Krohn aus; besonders
der letztere hat von seinen fünf in den Jahren
1881–1885 unternommenen Reisen ein sehr reiches
Material heimgebracht, dem die paar nicht aus Rudbeck
stammenden Thiermärchen unserer Sammlung
entnommen sind; er hat sie noch vor der finnischen
Veröffentlichung der Uebersetzerin freundlichst zur
Verfügung gestellt. Dieselbe soll mit den Thiermärchen
beginnen, welche nächstes Jahr, etwa 20 Bogen
stark, erscheinen werden.
Eine Stelle aus dem Briefe von Hrn. J. Krohn kann
ich mir nicht versagen hier abzuschreiben: »Ausser
den eigens auf Kosten der Gesellschaft durch herum-
reisende Sammler veranstalteten Sammlungen hat
man bekannt gemacht, dass für eingesandte Sammlungen,
wenn sie gewisse vorgeschriebene Regeln erfüllen
(genaues Angeben des Fundortes, des Erzählers
u.s.w.), Preise je nach dem Umfange und Werthe des
Manuskripts ausgezahlt werden, in den meisten Fällen
in von der Litteraturgesellschaft herausgegebenen
Büchern bestehend, ausnahmsweise auch in Geld.
Dieser Aufruf hat eine wahre Sündfluth von Zusendungen
zu Wege gebracht. Volksschullehrer, Schüler
der gelehrten Schulen, Bauern, Frauen, selbst Tagelöhner
schicken unaufhörlich grössere und kleinere
Sammlungen, jeder aus seiner nächsten Heimath. Natürlich
ist nicht Alles von gleichem Werthe, aber der
grösste Theil doch verwendbar. Ich führe dies an, weil
es mir scheint, als hätte man in den grösseren Culturländern
nicht genug verstanden, auch das Volk für
wissenschaftliche Zwecke zu interessiren. Bei uns
wird in derselben Art auch vielfach für Alterthumskunde
und vaterländische Geschichte mit gemeinschaftlichen
Kräften gearbeitet.«
Es wird von der Theilnahme, welche der vorliegende
Band findet, abhängen, ob die Uebersetzerin sich
entschliessen wird auch von den neuen durch die finnische
Litteraturgesellschaft zusammengebrachten
Schätzen den Folkloristen anderer Länder durch eine
deutsche Uebersetzung Einiges zu vermitteln. Die le-
bendige und innige Theilnahme, welche sich diese
hochgebildete, schriftstellerisch und künstlerisch strebende
Frau für ihre Heimat zu erhalten wusste, hat
auch dieser Uebersetzung einfacher und so oft gering
geachteter Volksmärchen warmes Leben eingehaucht.
Möge man das bei uns anerkennen, wo man ja stets
fremden Litteraturerzeugnissen eine gastliche Stätte
gegönnt hat; möge man aber auch in Finnland selbst
dankbar dafür sein.
G r a z , Ende October 1886.
Gustav Meyer.
Fußnoten
1 Ehstnische Märchen. Aufgezeichnet von F. Kreutzwald.
Aus dem Ehstnischen übersetzt von F. Löwe.
Halle 1869. – Zweite Hälfte. Dorpat 1881. Aeltere
Mittheilungen ehstnischer Märchen zählen W. Grimm
Kinder- und Hausmärchen III 353 (1856) und Schiefner
im Vorwort zum ersten Bande von Kreutzwald-
Löwe S. V auf.
2 Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und
Sprichwörter. Nach lappländischen, norwegischen
und schwedischen Quellen von I.C. Poestion. Wien
1886.
3 Vgl. Porthan De poesi fennica 1766. Lencquist
Specimen academicum de superstitione veterum Fennorum
theoretica et practica Åbo 1782. Ganander
Mythologia fennica Åbo 1789.
4 Hempelsche Ausgabe I 97: ›Käm' der liebe wohlbekannte‹.
– Voyage pittoresque au Cap Nord par A.F.
Skjöldebrand. 1801.
5 S. 375 f. in der mir vorliegenden Ausgabe Lübeck
und Franckfurt 1700, deren Orthographie und Interpunction
beibehalten sind.
6 Ueber das finnische Epos. In Hoefer's Zeitschrift für
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