unbestreitbar. Und wenn die letztern hie und da in
einzelnen Zügen sowohl als auch in der ganzen Richtung
auffallend an unsere Märchen anklingen, so kann
man oft gewiss mit Fug auf die gemeinsamen Grundlagen
der menschlichen Phantasie zur Erklärung dieser
Thatsache hinweisen.14
Der verstorbene Theodor Benfey hat zuerst in seiner
berühmten Einleitung zu der Uebersetzung des indischen
Fabelwerks Pantschatantra den richtigen Weg
für die Behandlung dieser Fragen eingeschlagen und
Indien als die Heimat des grössten Theiles, wenn
nicht aller Erzählungsstoffe des Abendlandes nachzuweisen
gesucht. Ich betone hier nicht zum ersten Mal,
dass es mir Zeit scheint, jetzt, wo nicht bloss indische
Quellen in grösserer Reichhaltigkeit uns zugänglich
gemacht worden sind, sondern wo wir auch über die
Märchen und Fabeln der Weltliteratur einen viel weiteren
Umblick haben, diese Untersuchungen wieder
aufzunehmen. Es ist ungemein zu beklagen, dass
Reinhold Köhler sein ungeheures und von keinem andern
auch nur annähernd erreichtes Wissen auf diesem
Gebiete bis jetzt wenigstens noch nicht in den Dienst
einer grösseren Arbeit gestellt hat, um die Heimat und
die Wanderungen der Märchenstoffe im einzelnen
darzulegen, für deren allgemeine Gruppirung und Zurückführung
auf gewisse Grundtypen J.G.v. Hahn in
der Einleitung zu seinen »Griechischen und albanesischen
Märchen« eine dankenswerthe Vorarbeit geliefert
hat.
Es ist nicht meine Absicht zu den einzelnen Märchen
unseres Buches einen fortlaufenden Commentar
zu liefern. Schon der finnische Herausgeber hat den
einzelnen Stücken Nachweisungen aus Märchensammlungen
anderer Völker vorgesetzt, an die man
leicht anknüpfen kann, um die Stoffe weiter zu verfolgen.
Ich will mich auf einige mehr allgemeine Bemerkungen
beschränken.
Für die Vergleichung von Märchen fällt nach dem
oben Bemerkten nicht so sehr die ethnologische oder
sprachliche Verwandtschaft der Völker ins Gewicht,
als ihre Berührungen in Folge geographischer Nähe
oder historischer Ereignisse. Das ist der Grund, weshalb
ich im Stande war, auf specielle Uebereinstimmungen
zwischen arabischen und sicilianischen Märchen
hinzuweisen (Essays und Studien S. 186 ff.).
Wenn man aber mit den finnischen Märchen zunächst
ehstnische und lappische vergleichen will, so mag
man das thun, dabei aber nicht an die Stammverwandtschaft
der Völker, sondern an ihre geographische
Verbreitung denken. Wie sehr bei den Lappen,
diesem kümmerlichsten und poesielosesten der finnischen
Stämme,15 die Farben der Märchen verblasst
sind, sieht man zum Beispiel aus einer Vergleichung
des Märchens »Die Tochter des Beivekönigs« bei
Poestion a.a.O. S. 236 ff. mit unserer damit identischen
No. 5. Von nicht verwandten Völkern haben
natürlich vor allem die Schweden und Norweger und
die Russen Anrecht darauf als die Märchenlieferanten
für Finnland betrachtet zu werden, und damit tritt die
finnische Märchendichtung in engen Zusammenhang
mit der germanischen und slavischen überhaupt. Wir
haben für diese an und für sich selbstverständliche
Thatsache zum Ueberfluss ein bestimmtes Zeugniss.
Im Jahre 1855 schrieb Lönnrot an Schiefner: »Als ich
einen Finnen fragte, woher er so viele Märchen wisse,
antwortete er mir: ›Ich habe mehrere Jahre nach einander
bald bei russischen, bald bei norwegischen Fischern
am Eismeer Dienste gethan, und so oft der
Sturm uns vom Fischfang abhielt, vertrieben wir uns
die Zeit mit Märchen und Erzählungen. Dann und
wann war mir ein Wort oder eine Stelle unverständlich,
doch errieth ich den allgemeinen Inhalt aller
Märchen, die ich nachmals mit selbsterfundenen Zu-
sätzen daheim wiedererzählte‹«.16 Diese Stelle ist
nicht uninteressant für die Lehre von der Wanderung
der Märchen und Sagen.
Eine Abtheilung unseres Buches wird in dieser Beziehung
besonderes Interesse für sich in Anspruch
nehmen dürfen, nämlich die Thiermärchen. Wir lernen
hier eine grosse Anzahl finnischer Märchen kennen,
die sich um den Fuchs, den Wolf und den Bären als
Hauptfiguren gruppiren, mit andern Worten Märchen
des bekannten Reineke-Kreises. Man kennt die verschiedenen
Ansichten, welche über das Verhältniss
dieser Reineke-Märchen zu den litterarischen Bearbeitungen
der Thiersage, dem sogenannten Thierepos,
aufgestellt worden sind, und wie sich in der Anschauung
über Wesen und Ursprung des letzteren seit
Jacob Grimm ein so bedeutender Umschwung vollzogen
hat. Es ist hier nicht der Ort auf diese Frage ausführlich
einzugehen; ich deute nur kurz die Ansicht
an, welche ich mir über dieselbe gebildet habe. Thiermärchen,
welche den Löwen und den Schakal zu
Hauptfiguren hatten, waren in Indien entstanden und
hatten sich von dort, wahrscheinlich zugleich mit der
lehrhaften Tendenz, die ihnen entweder ursprünglich
anhaftete oder in sie hineingetragen worden war, nach
dem Occident verbreitet. Die aesopischen Fabeln der
Griechen sind aus solchen volksthümlichen Märchen
gewissermassen destillirt. Diese litterarischen Fabeln
gingen zunächst wesentlich durch Vermittelung der
Römer zu den übrigen Völkern Westeuropas über und
haben bekanntlich ungeheuer lange fortzeugende
Kraft besessen. Daneben ist ein lebendiger Strom
mündlicher Ueberlieferung anzunehmen, der die alten
Volkserzählungen ebenfalls nach dem Abendlande
trug. Seiner Bahn im einzelnen nachzuspüren wird
vermuthlich für immer verlorene Mühe sein; hier gilt
das Wort Liebrechts: »Ein Märchen, eine Erzählung
u.s.w. findet Wege der Fortpflanzung, die sich oft
durchaus allem näheren Nachweise entziehen«. Es
sind wesentlich ausserhalb der Thiermärchen liegende
Momente, die mich bestimmen, anzunehmen, dass für
den Westen Europas Italien, für den Osten (zunächst
also für die slavischen Völker) Byzanz die Vermittlerin
gewesen ist; und es freut mich, in dieser schon früher
von mir geäusserten Ansicht (Essays und Studien
S. 227) mit dem mir erst später bekannt gewordenen
Buche des russischen Gelehrten Kolmaěevsky »Das
Thierepos im Westen und bei den Slaven«, Kasan
1882; zusammen zu treffen. Ziemlich früh hat man,
zunächst in französischen Klöstern, diese Thiergeschichten
theils einzeln, theils zu vielfach von einander
abweichenden Gruppen zusammen geschlossen,
litterarisch verwerthet, auch hier wieder mit didaktischer,
diesmal vorwiegend satirischer Tendenz. Das
»Thierepos« ist also ein verhältnissmässig sehr spätes
Product gelehrter geistlicher Dichtung, das seine Frische
und Ursprünglichkeit lediglich den zu Grunde
liegenden Volksmärchen zu danken hat. Diese, die ja
ohnehin in dem »Epos« nicht ohne Rest aufgingen,
wurden daneben ruhig weiter erzählt und weiter verbreitet;
zunächst wenigstens sind jene litterarischen
Thierdichtungen gewiss ohne jeden Einfluss auf das
Volk geblieben. Wieweit ein solcher später, als der
Reineke vielfach zum Volksbuch geworden war, anzunehmen
sei, darüber wage ich kein Urtheil auszusprechen;
ganz wird er kaum abzuleugnen sein, weiss
doch J. Wolff in der Einleitung zu Haltrich's Siebenbürgisch-
deutschen Thiermärchen sogar von einem
aus Goethe's Reineke Fuchs stammenden Märchen zu
berichten.17 Es scheint mir jedoch nicht nothwendig,
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