Schon früher hatte uns Paul mit einer Verdeutschung
des Kanteletar beschenkt.10 Kantele heisst
das finnische Musikinstrument, dessen Erfindung
durch Väinämöinen in der Kalevala erzählt wird und
über das man die ausführliche Auseinandersetzung
bei Retzius nachlesen mag.11 Davon hat Lönnrot die
Sammlung lyrischer Lieder benannt, welche er im
Jahre 1840 herausgab. Paul's Uebersetzung, welche
mit Weglassung von Varianten und unbedeutenden
Bruchstücken etwa die Hälfte der Originalausgabe
umfasst, setzt auch Fernerstehende in Stand, sich an
den Erzeugnissen einer Volksdichtung zu erfreuen,
welche einfache Gedanken in mannichfachster Abwechslung
darzustellen und ein wenig complicirtes
und von keinem Zwiespalt zerrissenes Seelenleben
mit grosser Zartheit und Tiefe der Empfindung zum
Ausdruck zu bringen weiss, ernst und still wie die Urwälder
und Landseen Finnlands.
Später als den in poetischer Form überlieferten Resten
finnischer Volksdichtung wandte man den Märchen
seine Aufmerksamkeit zu. Erst am Ende der
vierziger und Anfang der fünfziger Jahre wurden eigens
ihretwegen Sammler ausgeschickt. Das so zusammengebrachte
Material wurde von Eero Salmelainen
(Erik Rudbeck) geordnet und in den Jahren
1852–1866 in vier Heften herausgegeben.12 Aus diesen
ist das vorliegende Buch übersetzt. Es ist die erste
Sammlung finnischer Märchen, welche in deutscher
Uebersetzung geboten wird. Nur vereinzelte Stücke
der Rudbeck'schen Sammlung waren früher an zerstreuten
und schwer zugänglichen Orten mitgetheilt
worden. So machte bald nach dem Erscheinen des ersten
Heftes das von A. Erman herausgegebene »Archiv
für wissenschaftliche Kunde von Russland« in
seinem dreizehnten Bande (1854) S. 476 ff. auf die
Sammlung aufmerksam und theilte drei Märchen mit:
»Die vom Bösen geschenkten Instrumente«, »Das
Mädchen im dritten Stockwerke der Hofburg« und
»Lippo und der Tapio«, von denen das erste und das
dritte sich in unserem Buche als No. 17 und No. 2
finden, während das zweite eine Variante unserer No.
8 ist. Derselbe Band brachte S. 580 ff. noch die
Uebersetzung des Märchens »Die auf der Insel Leben-
den« (Saaressa eläjät, Rudbeck I2 99 ff.), eine Variante
unserer No. 11. Im sechzehnten (1857) und siebzehnten
(1858) Bande desselben »Archivs« sind drei
Märchen aus dem zweiten Hefte Rudbeck's übersetzt.
13 Ferner sind in dem mir nicht zugänglichen
Buche von Dr. Bertram Jenseits der Scheeren oder der
Geist Finnlands (Leipzig 1854) drei Märchen übersetzt:
»Die sonderbare Fleuduse«, »Das Mädchen aus
dem Meere« und »Der vigilante Jäger«, also unsere
No. 16, 10 und 2. Auch in Grässe's »Märchenwelt«,
die ich ebenfalls nicht habe einsehen können, sollen
sich nach Herrn Reinhold Köhler's Mittheilung einige
finnische Märchen befinden.
Die in dem vorliegenden Buche übersetzten Märchen
entsprechen in folgender Weise den Märchen des
Originals:
1. Brautfahrt des Schmiedes Ilmarinen = I 1 ff. Seppo
Ilmarisen kosinta.
2. Lippo und Tapio = I 6 ff. Lippo ja Tapio.
3. Mikko Mieheläinen = I 18 ff. Mikko Mieheläinen.
4. Das Teufelsschiff = I 29 ff. Hiiden laiva.
5. Der Aschenhocker = I 35 ff. Tuhkamo.
6. Die redenden Tannen = II 73 ff. Haastelevat
kuuset.
7. Das geschwätzige Weib = II 155 ff. Suulas akka.
8. Der Aschenhans = I 43 ff. Tuhkimo.
9. Die wunderbare Birke = I 59 ff. Ihmeellinen koivu.
10. Das dem Meere entstiegene Mädchen = I 77 ff.
Merestänousija neito.
11. Die neun Söhne des Weibes = I 87 ff. Naisen
yhdeksän poikaa.
12. Das Mädchen ohne Hände = I 108 ff. Käsitöin
neiti.
13. Von dem Mädchen, das ausging ihre Brüder zu
suchen = I 119 ff. Veljiänsä-etsijä tyttö.
14. Die dem Wassernix versprochenen Kinder = I 129
ff. Vetehiselle luvatut lapset.
15. Der in einen Hengst verwandelte Jüngling = I 142
ff. Oriiksi muutettu poika.
16. Die wunderbare Flöte = I 169 ff. Ihmeellinen
pilli.
17. Die Gaben des Unholds = I 181 ff. Hiiden lahjat.
18. Die wundersamen Schmiede = IV 1 ff. Ihmeelliset
sepät.
19. Vom Manne, der als Vogel über die Lande flog,
als Fisch durch das Wasser schwamm = IV 8 ff.
Miehestä, joka maat lenti lintuna, vedet ui kalana.
20. Der Lohn fürs Nachtlager = IV 12 ff. Yösian kostaminen.
21. Das widerhaarige Weib = IV 18 ff. Vastahakoinen
akka.
22. Der weise Mann und das Fieber = II 157 ff. Tietäja
ja tauti.
Von den Thiersagen steht der erste grosse Cyklus
»Bär, Fuchs und Wolf und ihre Abenteuer auf der Ilmola-
Feldmark« bei Rudbeck III 3 ff; das 17. Abenteuer
ist von der Uebersetzerin aus dem Ehstnischen
hinzugefügt. Die übrigen Thiermärchen entsprechen
folgenden Stücken des Originals:
2. Das Girren der Taube = III 45 Kyyhkysen kujerrus.
3. Hase, Wolf, Fuchs und Bär in der Fanggrube = III
45 No. 2 Jänis, susi, repo ja karhu yhtenä maahaudassa.
4. Die Tiere und der Teufel = III 47 Eläimet ja paholainen.
5. Der Fuchs, der Wolf und der Löwe = III 50 Kettu,
susi ja jalopeura.
6. Der Fuchs und der Hase = III 52 Kettu ja jänis.
7. Das Eichhorn, die Nadel und der Fausthandschuh =
III 52 Orava, neula ja kinnas.
8. Der Bär als Richter = III 55 Karhu tuomarina.
9. Der Wolf als Grenzwächter = III 56 Susi passin
katsojana.
10. Der alte Hahn = III 57 Vanha kukko.
No. 11–14 sind aus noch ungedruckten Originalen
übersetzt, über die ich später noch ein Wort sagen
werde.
Es ist eine wohl schon über den Kreis der Fachgelehrten
hinaus bekannt gewordene Thatsache, dass die
Märchen der europäischen Völker kein den einzelnen
von ihnen speciell zugehöriges Eigenthum sind, sondern
dass alle oder wenigstens fast alle bei den einzelnen
in mehr oder weniger genau zu einander stimmenden
Varianten erzählt werden, dass ferner viele derselben
auch bei den benachbarten Völkern Asiens und
Afrikas vorkommen, dass endlich selbst bei entlegenen,
gänzlich uncultivirten Stämmen Afrikas und
Amerikas sich zu manchen die überraschendsten Parallelen
nachweisen lassen. Die einzige Theorie, welche
diese merkwürdige Erscheinung befriedigend zu
erklären vermag, ist die Wanderungstheorie. Danach
ist ein Märchen an einem Punkte entstanden und hat
sich, wie heutigen Tages Witzworte und Anekdoten,
durch Weitererzählen von einem Volke zum andern
verbreitet. Man kann in dieser Weise sowohl die häufig
bis zu wörtlicher Gleichheit gehenden Uebereinstimmungen
verstehen als auch zu den ebenso bemerkenswerthen
Abweichungen Stellung nehmen, die
sich besonders durch Verschmelzung mehrerer Märchen
zu einem, durch Verschleppung einzelner Märchenzüge
an andere Stellen und durch Anpassung des
aus der Fremde eingewanderten Märchens an die psychische
Individualität und die Lebenserscheinungen
des entlehnenden Volkes erklären lassen. Dabei ist es,
wie ich glaube, durchaus nicht nöthig anzunehmen,
dass einzig und allein Indien das Mutterland aller unserer
Märchen und märchenartigen Erzählungen ist.
Uralte ägyptische Märchen müssen, so lange nicht
zwingende Gegengründe angeführt sind, als eigenste
Erfindung der Aegypter betrachtet werden, und das
Vorhandensein durchaus origineller Erzählungen bei
den Eingeborenen Afrikas und Australiens ist völlig
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