Nun gut, wir leben in Zeiten der Spezialisierung. Gesunder Menschenverstand ist da wenig gefragt, denn darauf lässt sich kein Fachgebiet aufbauen. Ausser natürlich, man versieht ihn mit einem möglichst gefragten Label wie zum Beispiel Therapie, denn so was lässt sich verkaufen. Am Ende ist alles eine Frage des Marketings, sagte mir einmal ein Finanzspezialist aus New York. Das ist nicht nur in der Finanzwelt so, das ist heutzutage so recht eigentlich überall so.
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Ob eine Alkoholtherapie nützt oder nicht, lässt sich nicht beweisen. Schon deswegen nicht, weil es keinen allgemeinen Konsens über die Natur, die Ursachen und die Behandlung des Alkoholismus gibt. Und was versteht man eigentlich unter Genesung? Ein Jahr Abstinenz, oder fünf Jahre, oder gar kontrolliertes Trinken?
Und überhaupt: Wie will man wissen, ob jemand aufgrund einer Therapie mit dem Saufen aufgehört hat? Die meisten Kliniken/Therapeuten verlangen von den Süchtigen Abstinenz, bevor sie mit der Behandlung beginnen.
Eine Therapie ist also erst dann möglich, wenn jemand mit dem Trinken aufgehört hat. Doch braucht so jemand überhaupt noch eine Therapie? Falls Abstinenz nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung für ein selbstverantwortliches Leben ist, dann ist Hilfe nötig, irgendeine Hilfe.
Mit dem Trinken aufzuhören, gelingt wenigen. Und die, denen es gelungen ist, können selber nicht sagen, wie es gelungen ist. Mein eigenes Aufhören erkläre ich mir heute so: Ich hatte einen Moment der Klarheit und aus Gründen, die ich nicht kenne, hatte ich den ergriffen, mich daran festgekrallt. Ob das wirklich so gewesen ist, weiss ich nicht.
Ich hatte zudem Glück: Das Bedürfnis zu saufen war weg. Und kehrte bis heute nicht zurück. Für mich ist das ein Wunder. Auch weil ich weiss, dass es anderen ganz anders geht. Und einige, auch nach Jahren der Abstinenz mehrmals pro Tag versucht sind, zur Flasche zu greifen.
Alkoholiker brauchen kein Expertenwissen, sie sind selber Experten; sie brauchen eine grundsätzlich neue Sichtweise. Walther H. Lechler schreibt in „Nicht die Droge ist's, sondern der Mensch“: „Die Metapher 'Alkohol' heisst übersetzt nicht allein C2H5OH oder Äthylalkohol, oder aqua vitae, sondern ist ganz schlicht Synonym von Lebenslüge, Selbstbetrug und Selbsttäuschung. Sie bezeichnet alles, was dazu dienen kann, unseren Blick vor der Wirklichkeit zu verstellen.“
Süchtige sind Lebensverweigerer.
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„Lassen Sie mich es so sagen: Man kann nicht auf der Welt sein, ohne in Schmerzen zu leben, seelischen und körperlichen Schmerzen. Wir haben Mechanismen entwickelt, um mit diesen Schmerzen umzugehen, sie irgendwie zu überwinden. Therapie, Religion und Spiritualität, Beziehungen, materiellen Erfolg. All das kann funktionieren, aber auch selbst zum Problem werden“, notierte David Foster Wallace in „ Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ .
Wer realisiert und akzeptiert, dass er unter einem Alkoholproblem leidet, hat Glück, denn Alkohol ist konkret, eine chemische Substanz. Eine Neurose oder eine Depression ist wesentlich schwerer zu fassen. Beim Alkoholiker ist klar, was er zu tun hat: Keinen Alkohol trinken. Und wie macht man das? Indem man das erste Glas stehen lässt. Das ist die erste Voraussetzung, ohne diese geht es nicht. Das ist schwierig? Ist es nicht, die Alkis sind schwierig.
Gemeinsam ist psychischen Störungen, von der Depression bis zu Borderline, von der Sucht bis zur Neurose, dass die darunter leidenden Menschen ständig mit den Bedingungen des menschlichen Lebens hadern, dass sie die Realität (und damit auch sich selber) nicht akzeptieren können.
Ist Burn-out eine Krankheit, ist ADHS eine Krankheit?
Kommt ganz drauf an, wen man fragt, denn es gibt keinen biologischen Test, der Normalität nachweisen könnte. Das heisst, dass es nur subjektive Diagnosen gibt und diese sind naturgemäss fehlerhaft. Und häufig von Profitinteressen motiviert. Da wären zum Beispiel die Pharmafirmen: Die Pathologisierung oder Krankheitserfindung sei die hohe Kunst, psychiatrische Krankheiten zu verkaufen, weil sie der effizienteste Absatzmarkt für lukrative Psychopharmaka sind, schreibt der Psychiater Allen Frances in „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ . Und da wären dann ja auch noch die vielen Therapeuten, die sich Arbeit beschaffen müssen.
Eine zutreffende Diagnose, so Frances, könne ein Leben retten, eine falsche eines ruinieren. Nur eben: Auch wenn die Diagnose einer seelischen Störung zutreffend ist, heisst das noch lange nicht, dass deswegen die Krankheit geheilt werden kann, denn aus ganz vielen Diagnosen lassen sich nicht notwendigerweise konkrete, erfolgsversprechende Handlungsanleitungen ableiten.
Dazu kommt, dass, was als psychische Störung gilt, auch dem Zeitgeist unterliegt. So war etwa Schizophrenie die Modediagnose der Sechzigerjahre. Heute ist es, gemäss Frances, der Autismus, die bipolare Störung, ADHS sowie die schizoaffektive Störung.
Eine Diagnose kann natürlich auch stigmatisieren. Meiner Ansicht nach ist die Stigmatisierung nicht wirklich problematisch (auf der sozialen Ebene geschieht vieles, was wir nur in geringem Ausmass beeinflussen können; wir können jedoch lernen, uns sozialen Zuschreibungen nicht widerstandslos auszuliefern). Auch ob die Diagnose hundertprozentig stimmt (kann sie das überhaupt?), erachte ich nicht als so zentral. Wichtiger erscheint mir, konkretes Tun auszuhandeln und dann zu sehen, ob dieses hilft. Wenn nicht, versucht man es eben mit einem anderen Handeln. Konkret: Wenn jemand mit einer geringen Frustrationstoleranz geschlagen ist, ist unwesentlich, ob diese wegen einer Borderline-Störung oder einer Neurose besteht. Wichtig ist allein, dass man sie pragmatisch handelnd angeht.
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Olivier Ameisen, Arzt, Wissenschaftler und Alkoholiker, hatte so ziemlich alles versucht, was an gängigen Angeboten zur Suchtbekämpfung vorhanden ist – Psychopharmaka, Rational Recovery, Meetings der Anonymen Alkoholiker (AA), Aufenthalte in Entzugskliniken – zudem betrieb er Sport und Yoga, doch nichts davon hielt ihn für längere Zeit vom Trinken ab. Dies lag nicht daran, dass er zu wenig motiviert war.
Wie viele Alkoholiker hatte er sein Leben lang an Unzulänglichkeitsgefühlen gelitten, war sich vorgekommen wie ein Hochstapler, der demnächst enttarnt werden würde. Lange bevor er mit dem Trinken angefangen hatte, hatte er Therapien gemacht. Bei seinen Ängsten hatten sie nicht viel geholfen. Sprach er mit Medizinern oder mit den AA über seine Ängste, meinten sie meist, diese würden verschwinden, wenn er mit dem Saufen aufhöre. Doch dem war nicht so. „Ich litt an Ängsten, lange bevor ich Alkoholiker wurde. Aber alle, die mich wegen meiner Alkoholsucht behandelten, ignorierten diesen Punkt, wie oft ich ihn auch wiederholte“, schreibt er in „Das Ende meiner Sucht“.
Ich kenne das, mir geht es genauso. Auch nachdem ich mit dem Saufen aufgehört hatte, war ich nicht frei von Ängsten. Manchmal bilde ich mir ein, es seien jetzt andere. Gewiss bin ich mir jedoch, dass sie wegzusaufen heute keine Option mehr ist.
Ameisens Saufen wurde, trotz vieler dramatischer Versuche, Gegensteuer zu geben, schlimmer; die Abstürze wurden dramatischer – er brach sich Rippen und Handgelenk (für einen begabten Pianisten wie Ameisen eine ganz besondere Katastrophe) – , doch verfügte er immer über genügend privilegierte Verbindungen, um jeweils wieder glücklich aus dem Schlamassel herauszukommen.
Nüchtern konstatiert er, dass Abhängige nie so viel Zeit zum Entzug bekommen, wie sie brauchen, sondern nur so viel, wie sie sich leisten können. Zudem: „Da es keine bewährte Therapie gibt, liegt der Hauptnutzen einer Entzugsklinik darin, dass sie dem Süchtigen die dringend nötige Pause vom Alkohol oder einer anderen Substanz oder Verhaltensweise bringt.“ Sicher, das auch, doch den wirklichen Hauptnutzen hat der Klinikbetreiber, für den der Entzug oft einfach nur ein Geschäft ist.
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