Manch seelisch Leidenden ist nicht zu helfen, ihr Widerstand zu gross und zu heftig. Die Psychiatrieprofessorin Kay Redfield Jamison, die selber an einer bipolaren Störung leidet, berichtet in „Eine ruhelose Seele“ von einem solch herzzerreissenden Fall: „Nichts, was in der Macht der Medizin oder der Psychologie stand, konnte ihn dazu bringen, seine Medikamente lange genug zu nehmen, dass es ihm auf die Dauer gut ging. Lithium half ihm, aber er nahm es nicht.“
Doch Einstellungs- und Verhaltensänderungen sind möglich. Manchmal. Ich habe es erfahren. Und andere auch. Auf ganz unterschiedlichen Wegen, einige davon finden sich auf den folgenden Seiten.
Ob Therapien nützen, lässt sich nicht beweisen
„ We are all mad, Inspector, for the simple reason
that we don’t know why we exist and this …”
he waved his hand at the tissue of existence before him,
“ this life is how we distract ourselves so that we don’t
have to think about things too difficult for us to comprehend.”
Robert Wilson: A Small Death in Lisbon
„Nützt eh nix" sagen viele, die Familienangehörige in Suchtkliniken oder beim Therapeuten wissen. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und da es Süchtige gibt, die nach einem Aufenthalt in einer Suchtklinik oder der Behandlung bei einer Therapeutin (es kann auch ein Mann sein) einige Zeit suchtfrei sind, nützt Therapie vielleicht ja eben doch.
Nur eben: wer weiss denn schon, ob Alkoholsüchtige nicht auch ohne Hilfe trocken geworden wären? So hören doch viele mit dem Saufen auf, weil sie in einen neuen Lebensabschnitt eintreten und/oder weil in einem bestimmten Moment die Sonne scheint oder es regnet oder weil der kleine Sohn (oder die kleine Tochter) fragte: „Papi/Mami, besäufst du dich wieder?“
Wir wissen nicht, was eine Sucht auslöst, wir wissen auch nicht, was eine Sucht beendet, doch wir wissen, dass einige es schaffen, von der Sucht loszukommen.
Gängige Therapieangebote verstehen Sucht als medizinisches, psychologisches und soziales Problem. Sie leiden nicht unter dem, was Sie sich vorstellen, sagt die Psychologin, der Psychiater oder die Sozialhelferin zum Alkoholiker, Sie leiden unter dem, was ich studiert habe.
Das heisst nicht, dass Therapien von Psychologen, Psychotherapeutinnen oder Psychiatern gar nichts bringen – sie können gut tun, sie können helfen. Nur eben: Psychologen, Psychotherapeutinnen oder Psychiater, die etwas von Sucht verstehen, tun dies nicht ihrer staatlich anerkannten Diplome wegen, sondern trotz dieser.
Suchtbehandlung von bei der Krankenkasse zugelassenen Therapeuten ist jedoch auch deswegen häufig nicht von Erfolg gekrönt, weil Süchtige (ob Alkoholiker oder Drogenabhängige) die gesellschaftlichen Werte, die die Therapeuten repräsentieren, ablehnen. Dazu kommt, dass ein Nicht-Alkoholiker in der Regel keinen Schimmer hat, wie ein Alkoholiker wirklich tickt, weil man das nicht studieren kann, sondern selber erlebt haben muss.
Aber Hallo! Die Forderung, man könne nur behandeln, was man auch selber durchgemacht hat, ist doch absurd, Veterinäre wären ja sonst alle arbeitslos und viele Tiere tot. Einverstanden, doch es gilt eben auch dies: „1976 streikten die Ärzte aller öffentlichen Krankenhäuser im Los Angeles County; die tägliche Sterberate sank um zwanzig Prozent.“ ( James Frey in „Strahlend schöner Morgen“ ).
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Unter Therapie versteht man ein Heilverfahren, von dem verlangt wird, dass es mess- und beweisbar ist und methodisch vorgeht. Als ob es für seelische Leiden Rezepte geben würde; Listen, die man abarbeiten könnte.
Doch Therapien können funktionieren. Für die, die an sie glauben. Und da es ganz unterschiedliche Ansätze und Vorgehensweisen gibt, hat der Patient die Auswahl. Und der Therapeut ebenso. So hält etwa der Psychiater Hans-Joachim Maaz nichts „von einer vorgeblichen Neutralität des Therapeuten“, sondern betrachtet es „als seine Pflicht, die eigene Position gegenüber den Belangen des Patienten zu reflektieren“, wie er in „Hilfe! Psychotherapie. Wie sie funktioniert und was sie leistet“ schreibt. Kein Therapeut kann seine Erfahrungen, seine Lebenseinstellung, aus der Therapie heraushalten.
Doch was macht eigentlich ein Therapeut? Er exploriert, stellt Fragen, trifft mit dem Patienten Vereinbarungen, bestätigt, was bestätigt gehört, verbalisiert emotionale Erlebnisinhalte, konfrontiert, deutet, doch raten soll er nicht oder nur selten, meint Maaz, da es darauf ankomme, dass der Patient lerne, sich besser zu verstehen, und aus Erkenntnis und Einsicht zu seinen Entscheidungen finde. „Psychotherapie ist Lehre zur Selbstberatung.“ Das Problem dabei ist, dass wir alle nicht sehr gut darin sind, auf unseren eigenen Rat zu hören.
Psychotherapie wirke, sei wissenschaftlich gesichert, behauptet Maaz, doch bleibe ihre individuelle Anwendung eine Kunst und sei von ganz subjektiven Faktoren abhängig. Nun ja, es galt lange Zeit auch als wissenschaftlich gesichert, dass Homosexualität eine Krankheit sei – aus der International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde sie erst 1993 entfernt. Fakt ist: Für viele der seelischen Krankheiten, die Aufnahme in die DSM, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen, der Bibel der Psychiatrie, finden, gibt es keine wissenschaftliche Grundlage.
Wissenschaft zeichnet sich durch Gesetze aus. Dabei handelt es sich, wie Siddhartha Mukherjee in „Gesetze der Medizin“ ausführt, um „Aussagen, deren Wahrheitsgehalt auf wiederholten experimentellen Beobachtungen einiger universeller oder verallgemeinerbarer Naturattribute gründet.“ Das ist in grossem Ausmass in der Physik der Fall, in kleinerem in der Chemie und in einem wesentlich kleinerem in der Biologie.
Laut Karl Heinz Brisch, dem Herausgeber von „Bindung und Sucht“, geht es in der Therapie um den Aufbau einer sicheren therapeutischen Bindung, die es ermöglichen soll, dem Klienten neue Möglichkeiten der Stressregulation zu vermitteln. Erst wenn in der Therapie neue, intensive, sichere Bindungserfahrungen zur Verfügung gestellt werden können (das kann dauern!), sei es möglich, das Suchtmittel zu entziehen. Ob der an Sofort-Lösungen gewöhnte Süchtige sich wirklich so lange gedulden kann?
Der Kunst der Gesprächsführung und dem erfolgreichen Umgang mit kleineren Fehlern oder Schnitzern, die eine Beziehung belasten können, werde nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, schreibt Arnold A. Lazarus im Vorwort zu „Was Therapeuten falsch machen“ . Das erstaunt nicht wirklich, denn das Ziel akademischer Ausbildungen ist die Erlangung eines offiziell anerkannten Diploms und nicht die Befähigung zur Hilfeleistung bei realen Problemen.
Bernard Schwartz und John V. Flowers, die Autoren von „Was Therapeuten falsch machen“, betonen , dass Behandlungsentscheidungen auf den besten verfügbaren Forschungsergebnissen basieren sollten. Wer würde dem auch widersprechen wollen? Nur eben: Das die Wissenschaft prägende Kausalitätsprinzip ist auf das Unbewusste nicht anwendbar ist. Unbewusst heisst ja, dass wir nichts Sicheres darüber wissen. Im besten Fall können wir informiert und intelligent raten (was, zugegeben, zu ganz guten Ergebnissen führen kann), was sich da abspielen könnte. Doch dieses Unbewusste in ein System von Ursache und Wirkung zwingen zu wollen, sagt mehr über unsere Gewohnheit zu denken aus („Das Problem ist, dass wir allzu gern eine Lösung wünschen, die dem Ursache-Wirkung-Prinzip gefährlich gefällig ist …“, schreibt Kathrin Wessling in „Drüberleben“), als darüber, was in dieser terra incognita wirklich passiert.
„Was Therapeuten falsch machen“ listet mehr als fünfzig Fehler auf. Das beginnt mit „Sie ignorieren die Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen des Klienten“ und endet mit „Die Kraft menschlicher Resilienz unterschätzen.“ Bei nicht wenigen der aufgeführten Fehler staunt man über die offenbar geringe Selbstreflexion einiger Therapeuten. Und auch darüber, dass die Autoren es nötig finden, für vollkommen Selbstverständliches Studien anzuführen. „Daraus lässt sich schliessen, dass wir Therapeuten genauso talentiert in Sachen Verleugnung, Selbsttäuschung und Rationalisierung (je nach Denkschule) sind wie unsere Klienten.“ Ausser den Therapeuten hat sich darüber vermutlich niemand gewundert.
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