Seufzend setzte sie sich auf den Boden, um sofort wieder aufzuspringen, denn hier, am Rand der Sumpfwiese war die Erde schon sehr feucht. Sie ging um den Erlenhain herum und sah auf das Moor hinaus. Dorthin gingen die Schmetterlingsleute nicht gerne. Alles war nass und klamm hier. Je weiter man sich hineinwagte, desto größer war die Gefahr, einfach einzusinken und stecken zu bleiben. Man konnte krank werden, wenn man vom Wasser der Sümpfe trank, viele Blumen waren giftig; manche auch auf andere Weise gefährlich: Sonnentau und Fettkraut, die versuchten einen festzuhalten, und Moskitos, Millionen Moskitos. Schmetterlingsleute wurden zwar nur selten gestochen, denn es war nicht so einfach für die Moskitos, die oft so groß wie Ticke selbst waren, unbemerkt zuzustechen. Aber schlief man beispielsweise oder steckte gerade im Schlamm fest und konnte nicht wegrennen, war ein Stich lebensgefährlich. Man schwoll am ganzen Körper an. Zum Glück konnten die Moskitos nicht anders, als laut zu summen, wenn sie sich näherten, sodass man ihnen normalerweise leicht ausweichen konnte. Allerdings summte hier mehr oder weniger alles. Zuhause auf der Wiese war es an einem Sonnentag schon ziemlich laut, aber das war noch nichts gegen diesen Ort. Es klang, als würden die Geräusche all der vielen Mücken, Fliegen und Käfer, die langsam aufgewacht waren, zu einem einzigen dumpfen Brummen verschmelzen.
Nur ein Geräusch war anders. Ticke hatte erst nicht darauf geachtet, aber jetzt, einmal darauf aufmerksam geworden, hörte sie es ganz deutlich. „Ahhhh, ahhhh …“ Eine Art Stöhnen. Sie blickte sich um, konnte aber nichts entdecken. „Ahhh …“ Da war es wieder, wo kam das nur her? Sie umrundete den Erlenhain noch weiter, das Stöhnen wurde lauter, aber sie wusste immer noch nicht, woher es stammte. Sie trat in den Schatten der Bäume ein, hier war es noch kühl und feucht, doch die Sonne war eben dabei, auch in die letzten dunklen Winkel zu dringen. „Aaaahhh“, hörte sie, dieses Mal ganz deutlich. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl zwischen die Blätter, tausend kleine Tautropfen blitzen auf.
„Ahhh!“, schrie dieses Mal Ticke, denn auf Augenhöhe, direkt vor ihr, hing ein riesiges Spinnennetz. Sie hatte es vollkommen übersehen. „Wäre der Sonnenstrahl nicht gewesen, ich wäre genau hineingelaufen!“, dachte Ticke entsetzt. Wunderschön sah das glitzernde Netz mit seinen beinahe durchsichtigen Seidenfäden aus, ein Meisterwerk der Webkunst. Die es gewebt hatte, hatte schon viele Netze gesponnen, denn sie war alt und klug und meistens hungrig.
Ticke wusste nichts davon, aber der Anblick des Netzes genügte, damit sie zurückwich. Doch da war wieder das Stöhnen. Wo kam es nur her? Sie wusste es plötzlich, noch bevor sie es sah. Am Rand des Netzes spannte sich eine einzelne Leine zwischen zwei Erlenzweiglein. Daran baumelte ein dickes Bündel, dicht mit Spinnengarn eingesponnen. Und daraus ragte ein ziemlich schmutziger Fuß. Ticke schauderte. Spinnen waren nicht ganz so gefährlich wie Mäuse, Füchse oder Vögel, aber die Art, wie sie mit ihrer Beute umgingen, war einfach schrecklich.
„Gefressen werden“, dachte Ticke, „ist eine Sache, aber von einer Spinne und vorher noch tagelang an der Vorratsleine hängen?“ „Hallo!“, rief sie zögernd nach oben, nicht ohne sich dabei misstrauisch nach allen Seiten umzusehen. Die meisten Spinnen verließen sich nur auf ihre Netze, aber nicht alle. Das Bündel an der Leine wackelte mit den Zehen und stöhnte. Ticke durchforstete ihr Gedächtnis nach allem, was sie von Spinnen und Befreiungsaktionen wusste. Kalas Mann, der ebenso dicke Pippo, war von einer Kreuzspinne gefangen worden und konnte erst nach zwei Tagen gerettet werden, obwohl man wusste, wo er hing. Mehrere Männer mussten die Spinne ablenken, damit Pippo heruntergeholt werden konnte. Immerhin, er wurde gerettet, auch wenn er kurz darauf starb, weil er von seinem Lieblingsfalter stürzte.
Sollte sie erst auf Sed warten? Gemeinsam wäre es viel besser, und unter gewöhnlichen Umständen hätte Ticke das auch ganz bestimmt getan, aber das arme Bündel stöhnte und ächzte schrecklich und die Spinne war nirgends zu entdecken. Zwar war sie möglicherweise nicht weit entfernt und lauerte auf neue Beute, aber so aufmerksam sich Ticke auch umsah, sie konnte keine Spur von der Netzbauerin entdecken.
Noch immer aufgebracht darüber, dass man sie nicht für groß genug gehalten hatte, ihr von Sednas Voraussage zu erzählen, dachte sie an all das Staunen, das es ihr zweifellos eintragen würde, wenn es ihr gelänge, die Vorratskammer der Spinne auf eigene Faust zu plündern. Und noch ein Gedanke kam ihr: „Wie, wenn das hier Aris Fuß war?“ Auf einmal schien alles sonnenklar, Ari war verschwunden, hier hing sie und Ticke würde sie retten. Sie vergaß dabei natürlich vollkommen, dass Ari niemals zehn Tage lang im Spinnennetz überlebt hätte. Mit solchen Kleinigkeiten hielt sie sich nicht auf, sie war bereits eine der kleinen Erlen, an denen die Vorratsleine aufgespannt war, hinaufgeklettert.
Der Stamm war noch sehr dünn, sodass sie keine Steigschuhe brauchte, aber oben angekommen, stand sie vor einem neuen Problem, denn wie sollte sie das Bündel herunterholen? Das Beste schien ihr, einfach die Leine zu kappen, aber dann würde das arme Bündel einfach auf dem Boden fallen. Allerdings waren unten Sumpf und moosiger Bewuchs, die den Aufprall abfedern würden – nicht allzu schlimm also. Sie zog an der Leine, aber die war natürlich viel zu haltbar. Spinnenseide war sehr beliebt bei den Schmetterlingsleuten, denn sie hielt alles aus, man konnte sie immer und überall brauchen, deshalb schnitt, wer sich traute, auch an jedem Netz herum.
Schnitt – jetzt fiel es ihr ein: Son hatte gesagt, die Spinnenseide risse einem die Haut auf, klebrig und komisch, wie sie war. Aber sie hatte Aris Glasscherbe dabei. Vorsichtig zog sie das kleine, braune Ding aus der Tasche, sie hatte es, nach Aris und Sons Vorbild, in ein Stückchen Leder eingeschlagen. Nach einigen Anläufen gelang es ihr, die Webe entzwei zu sägen, und das Bündel fiel und prallte auf dem Moos auf, gefolgt von einem schmerzerfüllten Wimmern. Wenigstens bewies dies, dass der oder die Gefangene der Spinne zwar nicht froh über den Fall war, es aber überlebt hatte.
Ticke jauchzte innerlich und schlug ihr Messer wieder in seine Lederhülle ein, als etwas ihren Kopf berührte. Achtlos fuhr sie sich durch die Haare und wollte sich gerade an den Abstieg machen, da kitzelte es an ihrem Hals. Unwillkürlich wandte Ticke sich um.
Und da war sie. Riesig, braunweiß und so nah, dass es keine Rettung gab: die Besitzerin des Netzes, eine der größten Kreuzspinnen, die es in diesen Teilen der Welt gibt. Mit ihren langen, tastenden Fühlern hatte sie sich schon mal ein Bild davon gemacht, wie dieser neue freche Braten wohl schmecken würde. Ihre Kiefer knackten leise und ihre zwei Hauptaugen betrachteten Ticke beinahe melancholisch. Die andern sechs Augen hatten nichts als Hunger.
Im Nachhinein gesehen war es das einzig Richtige: Ticke fiel vom Baum. Ihre Sinne versagten, sie konnte sich vor Entsetzen nicht mehr halten und so stürzte sie in die Tiefe und landete neben dem Bündel im Moos, das auch ihren Fall abfederte. Die Spinne, die gerade zur Umklammerung angesetzt hatte, griff enttäuscht ins Leere, verlor dabei ebenfalls das Gleichgewicht und fiel auch. Aber wenn eine Spinne fällt, hat sie ihren Faden, der ihren Sturz auffängt. Trotzdem wäre sie genau auf Ticke gelandet, hätte die sich nicht aus Reflex zur Seite geworfen.
Doch Tickes Lage war am Boden kein bisschen besser als vorher, sie hatte keine Waffe und keine Chance zu entkommen. Spinnen tragen ihr Skelett wie Bienen, Käfer und Heuschrecken außen. Sie haben also einen harten Panzer, und nur mit einem Speer konnte man ihnen beikommen. Nicht mal mit Pfeil und Bogen. Und schon gar nicht mit einem kleinen Glasmesser, das man zudem vorher ordentlich eingewickelt und weggesteckt hat. Trotzdem tastete Ticke, die noch immer auf dem Boden lag, hinter sich nach einer Waffe, nach irgendetwas, das das Ungeheuer aufhalten würde, aber da war nichts. Ihre Glieder klickten leise, als sich die Spinne in Position brachte. Ticke wusste genau, was gleich geschehen würde, und eine Welle heißer Panik überrollte sie und übernahm die Kontrolle über ihren Körper.
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