„Ich warte auf sie“, war die lapidare Antwort, immer noch mit einem freundlichen Lächeln gepaart.
„Nein, ich meine, wie kommen sie auf meinen Balkon?“
Zur Erschütterung und dem schnell gehenden Atem mischte sich noch eine ordentliche Portion Verwunderung in Toms Stimme.
„Das ist eine sehr gute Frage, auf die ich selber noch keine hinreichend gute Antwort habe“, antwortete Ottokar mit in Falten gelegter Stirn und einem suchenden Blick, den er über den Balkon streifen liess.
„Lassen sie mich rein?“ fuhr Ottokar mit einem freundlichen Blick zu Tom gewandt fort. „Ich habe nämlich keine Lust, mich von ihrem Balkon abzuseilen und die anderen Balkone sind mir für einen Sprung einen Ångström zu weit entfernt.“
Toms Gehirn schaltete auf Überlebensmodus. Es kam mit der Situation nicht zurecht und entschied sich für das Einfachste: Es überredete Tom dazu, seinen Nachbarn einfach durch das Fenster hereinzulassen.
Tom war beeindruckt, wie gewandt und ohne einen Anflug von Angst Ottokar auf das Balkongeländer stieg und den langen Schritt zum Fenster über den tiefen Abgrund neben dem Balkon vollführte. Da stand er nun in Toms Wohnzimmer und sah sich mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen um.
„Schönes Schlafzimmer, wirklich“, sagte Ottokar mit anerkennendem Tonfall in der Stimme, „aber ich hätte an ihrer Stelle den Schrank dort an die Wand gestellt, dann hätten sie freien Zugang zu ihrem Balkon.“
„Das hier ist eigentlich gar nicht… Ach was rede ich überhaupt! Nochmals: Wie kommen sie auf meinen Balkon?“
Ottokar drehte sich zu Tom um und sah ihm direkt in die Augen. Während er antwortete spiegelte sich Unsicherheit in seinem Gesicht.
„Das ist mir selber noch nicht ganz klar. Auf einmal war ich auf ihrem Balkon. Ist ihnen das auch schon mal passiert?“
„Nein.“
„Schade, somit haben wir einen Präzedenzfall und können keine Vergleichsstudie durchführen. Sehr schade!“
Ottokar sah enttäuscht zu Boden und blähte die Lippen.
„Nochmal von vorn“, setzte Tom erneut an, nachdem ihm die Ironie seiner kurzen Antwort bewusst wurde. „Sie sind auf meinem Balkon gelandet, ohne zu wissen wie? Haben sie sich dahin gebeamt oder so?“
Ottokar sah erstaunt auf.
„Sie meinen Quantenteleportation? Nein, so weit bin ich mit meinen Experimenten noch nicht.“
„Was für Experimente?“
„Tja, da wir beide nun so ein persönliches und verbindendes Erlebnis hatten, ist es wohl an der Zeit, unsere Beziehung auf eine neue Ebene zu heben. Ich bin Ottokar und wie wirst du genannt?“
Ottokar streckte ungelenk seine Hand aus. Toms Gehirn schaltete wieder auf Überlebensmodus und schlug der rechten Hand vor, Ottokars Hand zu ergreifen und freundschaftlich zu drücken. Toms rechte Hand nahm den Vorschlag widerspruchslos an.
„Tom.“
„Die Kurzform von Thomas?“
„Nein, die Kurzform von Tom.“
„Sehr interessant! Freut mich sehr, Tom.“
Ottokar schüttelte Toms Hand kräftig und grinste breit dazu.
„Ich bin noch nicht sicher, ob es mich auch freut“, entgegnete Tom zögerlich. „Experimente?“
„Ja, Experimente. Genauer gesagt: Grundlagenforschung der angewandten Physik. Willst du es sehen? Natürlich willst du. Komm!“
Ottokar ließ Toms Hand los und ging schnurstracks durch die Schlafzimmertür.
„Ah, schönes Wohnzimmer, wirklich, aber ich hätte an deiner Stelle das Wohnzimmer dort im Raum mit dem Zugang zum Balkon eingerichtet. Wäre vorteilhafter, wenn jemand zu Besuch kommt.“
„Das sollte eigentlich…“ stammelte Tom, der sich nicht bewegt hatte. „Hier geht es nach draußen.“
Ottokar drehte sich um und sah wie Tom auf die Tür zum Flur deutete.
„Sehr schön“, sagte Ottokar fröhlich und ging in Richtung Wohnungstür, die Hände wieder in den Hosentaschen vergraben. „Allerdings würde ich einen Rucksack nicht so achtlos auf den Boden werfen, man könnte darüber stolpern.“
„Danke für den Hinweis“, antwortete Tom ein wenig genervt und folgte Ottokar.
Tom folgte Ottokar zu seiner Wohnung auf der anderen Seite des Flures.
Toms Gehirn hatte immer noch größtenteils auf Überlebensmodus geschaltet und dachte sich: ‚Hm, keine Ahnung was hier los ist. Bevor durch angestrengtes Nachdenken irgendetwas Schlimmes mit meinen geliebten Synapsen passiert, folge ich einfach diesem komischen Typen. Scheint ja ganz spannend zu sein. Aber ein bisschen Energie für Skepsis kann ich schon aufwenden. Hey, Gesicht! Skepsis!‘
Toms Gesicht gehorchte.
Ottokar ging mit den Händen in den Hosentaschen voran und pfiff leise eine fröhliche Melodie. Vor seiner Wohnungstür angelangt schloss er sie auf und ging hinein.
„Komm, Tom!“ sagte Ottokar und setzte, nachdem er das skeptische Zögern auf Toms Gesicht gesehen hatte, hinzu: „Keine Panik! Hier ist nichts gefährliches und du kannst jederzeit unversehrt meine Wohnung wieder verlassen.“
Das beruhigte Tom zwar nicht, aber trotzdem folgte er Ottokar: Die Neugier war einfach viel zu überwältigend.
Der Flur in Ottokars Wohnung war unspektakulär leer und die Wände weiss gestrichen. Er wurde von einer einzelnen Glühbirne erleuchtet, die an einem Kabel von der Decke baumelte. Die Tür zum Wohnzimmer schien eine ganz normale Wohnzimmertür zu sein. Sie unterschied sich in nichts von der Wohnzimmertür, die auch in Toms Wohnung war. Das gleiche galt für die beiden Türen, die links und rechts vom Flur abgingen, hinter denen Tom jeweils das Bad und die Küche vermutete, wie es auch in seiner Wohnung der Fall war. Er war etwas enttäuscht. Irgendwie hatte er aus einer völlig irrigen Annahme heraus eine Einrichtung erwartet, die selbst HR Gigers Meisterwerke in den Schatten stellen würde. Nachdem Ottokar mit einer einladenden Geste Tom durch die Wohnungstür leitete, liess er sie einfach ins Schloss fallen. Tom schaute kurz ängstlich auf die geschlossene Wohnungstür, musste aber zu seiner Erleichterung feststellen, dass dort kein halbes Dutzend Riegel, Ketten oder sonstige Absperreinrichtungen vorhanden waren. Ottokar ging auf die Wohnzimmertür zu, öffnete sie und forderte Tom mit einer Handbewegung auf ihm zu folgen.
„Hier entlang“, sagte er.
Tom folgte Ottokar durch die Tür. Im Wohnzimmer war es dunkel, da kein Licht brannte und die Rollläden der Fenster geschlossen waren. Allerdings sah Tom diverse kleine Lämpchen in verschiedenen Farben und einen hell erleuchteten Computermonitor mit so etwas wie einer EKG-Linie darauf. Als Ottokar das Licht anschaltete, staunte Tom nicht schlecht über das, was er dann alles sah.
Der Raum war vollgestellt mit diversen technischen Geräten und Vorrichtungen, von denen Tom nur knapp die Hälfte identifizieren konnte. Soweit reichte sein technisches Verständnis gerade noch.
„Das ist mein Labor“, sagte Ottokar mit einer ausholenden Geste. „Ist doch echt chic, oder?“
„Was ist das alles hier?“ fragte Tom erstaunt.
„Ich will dich nicht mit unnötigen Details langweilen. Im Großen und Ganzen ist das alles hier, sagen wir mal, eine Versuchsanlage für die Untersuchung und Manipulation von Quantenteilchen: Computer zur Analyse und Steuerung, eine Laserkühlanlage und verschiedene Testaufbauten. Du weisst doch, was Quantenteilchen sind, oder?“
„Im Prinzip der Stoff, aus dem alles im Universum besteht. Subatomare Teilchen, aus denen auch die Protonen und Neutronen in Atomkernen aufgebaut sind.“
„Ja, das beschreibt es zutreffend genau für einen Laien. Du hast wohl keine Physik studiert, oder?“
„Nein, ich habe Technikredaktion studiert.“
„Hm, interessant. Darüber musst du mir mal bei Gelegenheit etwas erzählen.“
„Was machst du hier eigentlich genau? Ich verstehe immer noch nicht so ganz, wie man so etwas in einer Wohnung betreiben kann. Ist das nicht eher was für große Labore an Universitäten oder ähnlichem?“
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