Ich warf ihm vor, sich über mich lustig zu machen. Doch er meinte, es wäre wegen meiner naiven Vorstellungen über das, was in der Welt ablief.
Das empörte mich umso mehr. „Harry, du kannst doch nicht die Augen vor den bestehenden Ungerechtigkeiten verschließen! Wir sind durch die Kolonialzeit und die Ausbeutung der Dritten Welt mitschuldig an dem Elend dort!“
„Wieso wir? Man will uns als Bürger dieses Landes gerne für das alles verantwortlich machen. Hast du dir einmal überlegt, wer das behauptet und warum? Wir beide haben persönlich doch keine Schuld an diesen Zuständen. Außerdem gibt es Länder mit kolonialer Vergangenheit, die heute ebenso gut dastehen, wie manche der ehemaligen Kolonialmächte. Nimm China, Südkorea, aber auch Malaysia, Vietnam, Singapur …“
Zugegeben, ich hatte mich nie besonders mit Kolonialgeschichte beschäftigt. Aber es gab viele arme Entwicklungsländer und es war doch bekannt, dass die Europäer für das Elend in der Dritten Welt verantwortlich waren.
„Und warum können manche Länder, obwohl sie enorm viele Reichtümer besitzen, nicht einmal ihre Bevölkerung ernähren?“, bohrte Harry.
Ich zuckte mit den Achseln. Woher sollte ich das wissen?
„Weil diese Länder in einem korrupten Feudalsystem verharren und die Menschen sich dort in Bürgerkriegen seit Jahrzehnten massakrieren. Und dann sagt man, das sei alles unsere Schuld. Natürlich macht unsere Regierung schmutzige Geschäfte, Waffenlieferungen und noch viel mehr. Aber dafür kannst du doch nichts, Herbert. Hat man dich je gefragt, ob du damit einverstanden bist? Vieles kann nur von den Menschen in diesen Ländern selbst geändert werden! Auch wir mussten das in unserer Geschichte tun, sonst lebten wir heute noch im Mittelalter!“
„Trotzdem fühle ich mich dafür mitverantwortlich!“
„Hör doch auf, dich für alles Elend in der Welt anzuklagen, Herbert! Du kannst diese Konflikte nicht lösen, also werden sie dir ewig ein schlechtes Gewissen bereiten. Damit erzeugst du in dir Schuldgefühle, die dich krankmachen. Vielleicht will man das auch!“
„Wieso sollte das jemand wollen?“
„Ganz einfach. Wenn wir uns mies und schuldig fühlen, lassen wir uns leichter manipulieren. Wir lassen uns zu Worten und Handlungen beeinflussen, hinter denen wir nicht stehen und die für uns manchmal nachteilig sind! Aus einem schlechten Gewissen heraus verspricht und tut man häufig etwas, das man später bereut!“
*
Ich ertappte mich dabei, wie ich in Gedanken versunken vor dem Spiegel stand. In meiner Jugend war es der Pfarrer gewesen, der uns ein schlechtes Gewissen vermittelte. Doch das war nur am Sonntag und hielt nie lange vor. Heute hatten diese Funktion die Journalisten übernommen, die rund um die Uhr viel mehr Menschen erreichten, die sich dafür auch nicht extra in eine Kirche bequemen mussten.
Ich weiß nicht mehr, wie Harry und ich damals auseinandergegangen waren, doch haben wir uns bei solchen Diskussionen nie ernsthaft gestritten. Ich stellte mir nur gerade vor, wie das Gespräch verlaufen wäre, wenn mein Studienfreund Frank dabei gewesen wäre.
Frank Koestner hatte ich an der Uni in Berlin kennengelernt. Wir waren beide im gleichen Studiengang und trafen uns regelmäßig in Seminaren und Vorlesungen. Frank war außerdem politisch aktiv und trat bald in eine Partei ein, die sich dem Umweltschutz und den Menschenrechten verschrieben hatte. Sie fußte auf den Wurzeln der Studentenbewegung von 1968, zu deren Erben sich Frank und viele in seiner Partei zählten.
Doch seit 1968 waren bald fünfzig Jahre vergangen. Frank und seine Partei hatten sich längst in dem damals bekämpften System eingerichtet. Mit der Zeit war er zu jemand geworden, der ich schon immer gewesen war, ein an die Gesellschaft Angepasster. Als ich das einmal andeutete, behauptete er, es wäre genau umgekehrt. Nicht er, sondern die Gesellschaft hätte sich inzwischen an seine Ideen und die seiner Partei angepasst. Ich widersprach ihm nicht, es war mir auch egal. Man konnte das von dieser oder jener Warte sehen. In jedem Fall hatten wir gemeinsam, zu den Anständigen der Gesellschaft zu gehören.
Harry hingegen hatte sich nie einer Partei angeschlossen. Über den vielerorts beschworenen Aufstand der Anständigen hatte er nur gelästert. Die das propagierten, seien Heuchler, meinte er. Ihre Phrasendrescherei diene nur dazu, kritische Meinungen abzuwerten und zum Schweigen zu bringen. Harry und ich waren im gleichen Jahr zum Studium nach Berlin gezogen. Kaum war er in der Stadt angekommen, machte er schon seinen Taxischein. Im Laufe der Jahre wurde er zu einem typischen Langzeitstudenten, der seinen Lebensunterhalt mit Taxifahren verdiente. Harry war noch an der Uni, als ich bereits verheiratet war und für Sündermann auf Geschäftsreisen ging. Erika hatte für Harry nie etwas übrig gehabt. Sie hielt ihn für einen Versager, der einen schlechten Einfluss auf mich hatte.
Neben seiner Arbeit als Taxifahrer betrieb Harry eine Internetseite mit dem Titel Ansichten eines Droschkenkutschers . Es war eine andere Welt, verglichen mit dem, was man in den offiziellen Medien hörte. Doch Harry war es egal, ob das, was er schrieb, politisch korrekt war oder nicht. Mir dagegen war es immer sehr wichtig gewesen, was andere über mich dachten.
„ Die Welt ist so, wie man sie sieht “, hatte der Paartherapeut mir damals in der Scheidungsphase gesagt. Doch das hatte mich nicht besonders angesprochen. Für mich war wichtiger, wie die Welt mich sah. Dazu gehörte auch, dass man sich nicht durch politisch unkorrekte Ansichten gesellschaftlich ins Abseits stellte.
Ein erneuter Blick in den Spiegel erinnerte mich daran, dass ich dringend zum Friseur musste. Ich fuhr mir mit den Fingern durch meine hellbraunen Haare und kämmte die Strähnen nach hinten. Eigentlich waren meine Sorgen lächerlich, wenn man sie mit den Problemen vieler Menschen verglich. Ich hing das nasse Handtuch zum Trocknen über die Zentralheizung. All das hier, die große Wohnung, das überheizte Bad, waren purer Luxus. Es erinnerte mich daran, wie Frank mir mein Konsumverhalten vorgeworfen hatte. Als ich noch mit Erika verheiratet gewesen war, hatten wir uns regelmäßig mit Frank getroffen und über Gott und die Welt diskutiert.
Erika fand Franks Ansichten am Anfang ziemlich daneben, sie liebte den Luxus. Doch Frank hatte sie irgendwann soweit gebracht, dass sie von sich aus auf politische Veranstaltungen ging. Sie begann sich verstärkt für Frauenrechte zu engagieren. Schließlich wurde sie in ihrer Dienststelle zur Gleichstellungsbeauftragten gewählt. Damit war sie von ihrer monotonen Arbeit in der Beschaffungsstelle freigestellt und hatte noch dazu im BIFI an Einfluss gewonnen.
Im Jahr vor der Scheidung hatte ich Frank aus den Augen verloren. Ich hatte mich damals von allen zurückgezogen und litt still vor mich hin. Von den gemeinsamen Freunden aus der Zeit unserer Ehe ließ kaum noch einer etwas von sich hören. Als Reaktion darauf hatte ich mich immer mehr in die Arbeit gestürzt.
Doch dann hatte ich Frank eines Tages zufällig auf der Straße wiedergetroffen. Wir gingen auf ein Bier in eine Kneipe, die wir noch von früher her kannten, sprachen über alte Zeiten und wie es uns seitdem ergangen war. An der Uni war es damals für mich wichtig gewesen, von dem bewunderten, zwei Jahre älteren Frank Koestner anerkannt zu werden. Frank besaß vieles, was mir fehlte. Er war selbstsicher, konnte gut reden, und mit seiner Art hatte er bei Frauen schnell Erfolg. Auf irgendeine Weise ließ er mich immer spüren, was für ein kleiner Durchschnittstyp ich selbst war.
Als wir uns wiedersahen, war ich über Franks bürgerliche Erscheinung überrascht. Statt des üblichen Rollkragenpullovers und der ausgewaschenen Jeans trug er ein weißes Hemd unter einem modischen Sakko mit einer dazu passenden Hose. Nur seine weißblonden Haare hingen noch genauso strähnig auf beiden Seiten seines Gesichts herunter, wie in früheren Zeiten. Ich hatte mir daher nichts weiter dabei gedacht, als ich Frank von meinem 5er-BMW vorschwärmte und von den Annehmlichkeiten, die ich mir als leitender Angestellter bei Sündermann & Lange leisten konnte.
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