Die Nachrichten boten meist nicht viel Neues. Trotzdem wollte ich sie nicht verpassen. Von der mir vertrauten Stimme verlesen, erschienen sie mir oft wie losgelöst von der Zeit. Ähnliches hatte ich doch schon vor Wochen und Monaten gehört, verlesen von einer Stimme, deren besorgtes Timbre stets Anlass zur Beunruhigung gab.
„ Die Versicherten werden sich im nächsten Jahr auf eine deutliche Erhöhung der Krankenkassenbeiträge einstellen müssen. Unter den gesetzlichen Krankenversicherungen haben bereits die ...“
Nach einer unmerklichen Pause erfolgte die nächste Meldung. „Die Bundesregierung kann eine Verlängerung des Solidaritätsbeitrages über den ursprünglich geplanten Termin hinaus nicht mehr ausschließen ...“
Nach einer Atempause fuhr die Sprecherin fort . „Halter von Dieselkraftfahrzeugen müssen im nächsten Jahr mit höheren steuerlichen Belastungen rechnen ...“
Mir war leicht übel, als würde mir das Abendessen immer noch im Magen liegen. Die Erhöhung der Sozialabgaben, der Versicherungsbeiträge, und die Kraftfahrzeugsteuer für meinen 5er-BMW Diesel, den ich mir nach der Scheidung angeschafft hatte, würden meine finanzielle Lage verschlechtern. Auch mit einer Mieterhöhung für die Dreizimmerwohnung, in der ich nach der Scheidung geblieben war, musste ich im nächsten Jahr rechnen.
An eine Gehaltserhöhung war zudem nicht zu denken. Auf der letzten Betriebsversammlung hieß es, die Firma hätte durch die EU-Sanktionen gegen Russland erhebliche Einbußen erlitten.
„Die Sündermann & Lange KG fühlt sich in erster Linie ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen verpflichtet. Aus diesem Grund zieht das Unternehmen den Erhalt von Arbeitsplätzen etwaigen Gehaltsanpassungen für die Mitarbeiter vor.“ Der Juniorchef hatte bei diesem Satz seinen Blick auf mich gerichtet, bevor er die Versammlung in den Feierabend schickte.
Ich begann auszurechnen, wie viel Geld mir im kommenden Jahr noch zur Verfügung stand. Bevor ich damit fertig war, durchschnitt die Stimme aus dem Radio meine Gedanken. „Der demographische Wandel wird nach Ansicht führender Finanzexperten Deutschland in den nächsten Jahrzehnten erheblich zusetzen ... spätestens in zwanzig Jahren wird das Altersvorsorgesystem nicht mehr finanzierbar sein. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters ist nach Ansicht von Wirtschaftsweisen kaum noch auszuschließen .“
Ich zog meinen Pyjama aus, faltete ihn zusammen und legte ihn aufs Bett. Mein Blick fiel auf meinen winterblassen, untrainierten Körper und die deutlichen Anzeichen einer Gewebeerschlaffung um den Bauchbereich herum. Ein Gefühl der Resignation zwang mich dazu, meine Augen zu schließen, um diesen Eindruck auszublenden. Der Zeitraum, für den der Kollaps der Altersvorsorge vorhergesagt wurde, entsprach meinem Eintritt ins Rentenalter. Dann war es ziemlich egal, wie viel ich vorher in die Rentenversicherung eingezahlt hatte.
Ich zog einen frischen Slip an und stieg in meine Jogginghose. Während ich meine Hausschuhe suchte, die irgendwo unter dem Bett lagen, trug mir der Radiowecker das Elend der Welt in mein achtzehn Quadratmeter großes Schlafzimmer: „Die syrische Regierung hat offiziell zugegeben, Chemiewaffen wie Tabun, Sarin und Senfgas besessen zu haben. Die letzten Bestände davon wurden unter Aufsicht von UNO-Inspektoren zerstört. Giftige Rückstände gehen an Spezialbetriebe in Deutschland zur Weiterverarbeitung .“
Chemiewaffen waren durch die Genfer Konvention weltweit geächtet. Aber einige Länder hatten sich nie darum geschert. Sarin und Tabun standen für tödliche Nervengifte. Ich kannte mich gut damit aus, denn ich hatte mich in meinem Studium intensiv mit neurotoxischen Substanzen beschäftigt. Die Mechanismen der Erregungsübertragung an den Nervenbahnen waren faszinierend. Zudem gab es jede Menge Pharmaka, die das Nervensystem in der einen oder anderen Weise beeinflussten.
„ Der Krieg im Nahen Osten hat sich weiter verschärft, mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen nach Europa ist zu rechnen.“
Man sprach von über einer Million Flüchtlingen, die bereits in Deutschland waren. Die meisten sollten aus Syrien stammen, doch genaue Angaben über ihre Zahl und die Herkunftsländer gab es nicht. Die Beliebigkeit, mit der immer wieder neue Zahlen in den Raum geworfen wurden, versetzte mich jedes Mal in Erstaunen. In der Firma hätten sie mich entlassen, wenn ich ihnen mit solchen Unstimmigkeiten gekommen wäre. Doch für die Politik und die Medien galten andere Regeln. Man dachte global, hatte Visionen und solche Kleinlichkeiten störten dabei nur.
Es war fünf Minuten nach sieben. Mit der Zeitansage endeten auch die Frühnachrichten. Ich ging ins Bad, in das wir bei unserem Einzug viel Geld investiert hatten. Über der Wanne hatte ich ein Radio befestigt, das mit einer Spritzschutzeinrichtung versehen war. Ich füllte meinen Zahnputzbecher. Das summende Geräusch der elektrischen Zahnbürste mischte sich mit dem Frühkommentar aus dem Radio.
Während ich mich rasierte, war die Journalistin zur Hochform aufgelaufen: „Deutschland hat die moralische Pflicht, sich um die Situation der Menschen im Nahen Osten und in Afrika zu kümmern ... trägt man hierorts ein gehöriges Maß an Schuld an den Zuständen, die in den Entwicklungsländern herrschen … der demographische Wandel zwingt Deutschland zum Umdenken. Wir müssen offener werden für die Migration aus den von Krieg und Armut betroffenen Ländern …“
Ihre weiteren Worte wurden vom Rauschen des Wasserstrahls übertönt, unter dem ich meinen Rasierer ausspülte. Doch ich brauchte nicht mehr zu hören, um zu wissen, worum es ihr ging. Wie jedes Mal nach einem solchen Weckruf blieb in mir ein Gefühl, als sei ich verantwortlich für den Schlamassel, der sich jeden Tag neu auf der Welt ereignete.
Während ich die Ergebnisse des Zähneputzens und meiner Rasur im hellen Licht des Spiegels überprüfte, breiteten sich Schuldgefühle in mir aus. Warum machte ich mich so verrückt, mit meinen kleinlichen Sorgen um die Miete, um mein Auto und um eine Rente, die ich, wenn überhaupt, erst in mehr als zwanzig Jahren bekommen würde? Wir schaffen das , hieß es. Ich nahm mir vor, den heutigen Tag unter diesem Motto zu beginnen. Deutschland ging es doch gut! Mir ging es doch gut! Wenn ich meine Probleme mit dem Elend in den Kriegsgebieten und mit der Lage der Flüchtlinge verglich, waren das doch Kinkerlitzchen. So hörte man es aus den meisten Medien. Und in den Talkshows waren alle, bis auf ein oder zwei Dödel, die man nur zum Abwatschen eingeladen hatte, auch dieser Meinung.
Natürlich sollte man noch mehr gegen die Missstände in der Welt unternehmen. Ich spendete Geld an Hilfsorganisationen, blieb aber trotzdem auf meinem schlechten Gewissen sitzen. Für mein Leben im Luxus, für meine egoistischen Bequemlichkeiten, und nicht zuletzt für den Zufall, dass ich in einem reichen Land geboren war und dort gut lebte.
Als ich mich einmal bei meinem alten Schulfreund Harry Teubner darüber beklagte, hatte er darüber nur den Kopf geschüttelt: „Hast du dich einmal gefragt, was das alles mit dir persönlich zu tun hat, Herbert? Was kannst du denn für die Probleme in der ganzen Welt? Mach dir lieber Gedanken über Dinge, die du selbst ändern kannst.“
Für einen Moment glaubte ich, nicht recht zu hören. Aber Harry war es schon in der Schule egal gewesen, was andere von ihm dachten. Nach dem Abitur hatte er Philosophie und Psychologie studiert, seinen Kopf mit theoretischem Krimskrams vollgestopft. Vielleicht bekam er deswegen so eigensinnige Ansichten. Ich hielt mich lieber an die Naturwissenschaften. Da gab es feste Bezugspunkte, Fakten und Zahlen.
Als ich mich über seine Worte aufregte, winkte er nur ab: „Ach Herbert! Du schlechtes Gewissen im Lande der Freudlosigkeit!“
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