1 ...6 7 8 10 11 12 ...35 „Wissen Sie, ich bin noch nicht lange Leiter dieses Hauses. Eines aber habe ich, seit ich hier bin, gelernt: Halte dich aus den Schlagzeilen heraus. Jede Medienpräsenz des Lagers kann sich nur negativ auswirken. Deshalb sollten die Ermittlungen hier so diskret wie möglich geführt werden.“
Er sah Margreiter gespannt an und erwartete offensichtlich eine Antwort.
„Wir werden versuchen, den täglichen Betrieb mit unseren Ermittlungen so wenig wie möglich zu stören. Allerdings fürchte ich, dass bei einer Sache wie dieser, die durch alle Zeitungen gehen wird, unauffällige Erhebungen eine Illusion sind“, erwiderte dieser. In einem solchen Fall konnte er nichts weniger brauchen als jemanden, der ihn zwang, so vorsichtig wie möglich herum zu lavieren. „Auf Grund der Bedeutung des Falles ist es notwendig, dass Sie uns jede nur mögliche Unterstützung zukommen lassen.“
„Das werde ich gerne tun, erwarte mir aber im Gegenzug, dass ich immer über den letzten Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten werde“, erwiderte Schirmer.
„Das kann ich Ihnen nur soweit versprechen, als es aus ermittlungstaktischer Sicht möglich ist“, antwortete Margreiter auf die provozierend direkte Forderung Schirmers, „nicht mehr und nicht weniger.“
„Natürlich, was passiert ist, ist keine alltägliche Sache. Sie werden mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Methoden versuchen, so schnell wie möglich zu einer Lösung zu kommen. Das ist ja auch in unser aller Interesse.“ Schirmers Verständnis wirkte berechnend, „aber ich glaube, wenn es Insassen meiner Betreuungseinrichtung betrifft, sollten Sie mir unbedingt immer den aktuellen Stand mitteilen. Schließlich stehe ich in der Öffentlichkeit und muss wissen, worüber ich rede, wenn ich gefragt werde.“
„Keine Angst, wenn etwas für Sie von Bedeutung ist, werden Sie informiert, in Zweifelsfällen spreche ich mit meinem Chef“, erwiderte Margreiter, der genug Erfahrung hatte, um zu wissen, dass man bei jemandem wie Schirmer jedes Wort auf die Goldwaage legen musste. „Ich muss aber betonen, dass in diesen Dingen Mitteilungen an die Presse oder die Öffentlichkeit nur im Einvernehmen mit uns als ermittelnder Behörde möglich sind.“
„Nur keine Sorge, ich habe Erfahrung mit der Presse und der öffentlichen Meinung und weiß mit den Informationen, die ich erhalte, entsprechend umzugehen“, bemerkte Schirmer, als ob er Margreiters Einschränkungen nicht gehört hätte.
„Wenn möglich, würde ich gerne zu den heutigen Erfordernissen kommen“, sagte dieser, „wir benötigen eine vollständige Liste aller Lagerinsassen mit Namen, Geburtsdaten, Herkunftsland, Datum der Aufnahme und Fotografie. Außerdem wäre ein Vernehmungsraum hier direkt im Lager von Vorteil. Es wäre einfacher, als alle, die wir eingehender befragen müssen, zum Polizeiposten zu bringen.“
„Selbstverständlich“, beeilte sich Schirmer zu betonen, „wir können alles so einrichten, wie Sie es wünschen. Einzig die Fotos haben wir nicht im Computer. Alles andere lässt sich auswerten. Sie können aber zu jedem Insassen ein Foto aus dem Akt haben.“
„Wir benötigen von jedem Insassen, von dem wir es für nötig halten, den gesamten Akt“, stellte Margreiter die Verhältnisse richtig.
„Aber natürlich, den gesamten Akt“, verbesserte sich Schirmer betont zuvorkommend, „Einen Moment!“ und er rief die Sekretärin, sie hieß Ziegelmeier, herein, um ihr die Wünsche der Polizei mitzuteilen.
„Frau Ziegelmeier wird Ihnen alles, was Sie benötigen, besorgen“, bemerkte er abschließend und ersuchte Margreiter und Viktor, mit allen Anliegen zu ihr zu kommen. Er selbst stehe ihnen selbstverständlich auch jederzeit, wenn sie es wünschten, zur Verfügung.
„Danke, und auf Wiedersehen, zumindest fürs Erste“, verabschiedete sich Margreiter, und Viktor grüßte ebenfalls.
„Wir werden ja immer wieder miteinander zu tun haben“, bemerkte Schirmer, während die beiden Kriminalbeamten in Begleitung der Sekretärin das Zimmer verließen.
Nicole stellte ihren Wagen vor dem Gartenzaun des imposanten Einfamilienhauses ab, das aussah, als sei es erst vor kurzem errichtet worden. Es lag in einer gut fünfzehn Jahre alten Wohnsiedlung im Norden Dreistättens, die so schnell wuchs, dass jemand, der im Frühjahr dort auf Besuch war, im Herbst oft nicht mehr wusste, ob er sich noch in der richtigen Gegend befand. Landläufig wurde dieses Wohngebiet Dreistättens Vogelsiedlung genannt. Irgendwann hatten die Stadtväter die Idee geboren, die Straßen dieser Siedlung ausschließlich nach Vögeln zu benennen: Schwalbengasse, Lerchengasse, Elsterngasse und so weiter. Ein origineller Einfall, der auf Grund des ornithologischen Artenreichtums einem weiteren Anwachsen des bebauten Bereichs, zumindest was die dafür erforderlichen Straßennamen betraf, keine Grenzen setzte.
Nicole stand jetzt vor dem Gartentor des Hauses Rotkehlchengasse fünfzehn. Kurz nachdem sie geläutet hatte, wurde die Tür von einer älteren Dame geöffnet.
„Guten Tag“, begann sie, „mein Name ist Hofmüller vom Polizeikommando Fürstenberg. Ich möchte mit Herrn und Frau Zeiringer sprechen. Es geht um den Tod ihrer Tochter Jacqueline.“
Die ältere Frau kam zum Gartentor, wo Nicole ihr unaufgefordert ihre Polizeimarke entgegenhielt.
„Bitte, kommen Sie herein“, erwiderte die Frau, die nicht gleich zu verstehen schien, „ich heiße ebenfalls Zeiringer und bin die Großmutter von Jacqueline. Sie wollen zu meiner Schwiegertochter?“
„Ja, bitte“, bemerkte Nicole nur. Bei Anlässen wie diesem machte sie nie viele Worte, sondern beobachtete, wie die Menschen, mit denen die Ermordete zusammengelebt hatte, reagierten.
„Bitte, kommen Sie weiter“, erwiderte Frau Zeiringer Senior.
Das Innere des Hauses war geschmackvoll eingerichtet. Nicole, die behutsamer als ihre Kollegen auf solche Details achtete, erkannte eine für eine Jungfamilie eher unübliche Exklusivität. Den Zeiringers schienen die mit dem Hausbau verbundenen finanziellen Belastungen keine ernsthaften Probleme bereitet zu haben.
„Christine, es ist jemand von der Polizei hier“, rief die Großmutter der Toten durch den Vorraum ins Wohnzimmer hinein, noch bevor Nicole die Bewohner zu Gesicht bekommen hatte. Kurz darauf kam ihr eine schwarz gekleidete junge Frau entgegen, deren abwesender Gesichtsausdruck noch die Trostlosigkeit der vergangenen Nacht widerspiegelte, in der an Schlaf für sie wohl nicht zu denken gewesen war. Nicole wusste um die Belastung, die diese erste Befragung für die Angehörigen darstellte und ging deshalb so taktvoll wie möglich vor. Nachdem sie abgelegt hatte, wurde sie von der Großmutter des Opfers gebeten, sich zu setzen. Sie bot ihr etwas zu trinken an, was sie dankend annahm. Der Vater der Toten war nicht zu sehen, obwohl er offenbar zu Hause war, aber Nicole wollte ohnehin zuerst mit der Mutter sprechen.
„Frau Zeiringer, als erstes möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen“, begann sie das Gespräch und ihre Worte hatten die Wirkung, die sie befürchtet hatte. Die Mutter brach in Tränen aus. Es wäre aber schwer möglich und wohl auch nicht sinnvoll gewesen, diese Einleitung zu vermeiden. Nachdem der Fluss versiegt war, hatte sich Frau Zeiringers Gemütszustand stabilisiert und sie schien in der Lage, die Fragen zu beantworten.
„Einleitend möchte ich betonen, dass wir alles tun, um den Schuldigen an diesem Verbrechen auszuforschen, auch wenn das Ihre Tochter nicht zurückbringen kann“, sagte Nicole, um anschließend zur Sache zu kommen, „Wir benötigen dabei aber Ihre Hilfe, deshalb ersuche ich Sie, mir einige Fragen zu beantworten.“
Frau Zeiringer nickte.
„War Ihre Tochter Ihr einziges Kind oder gibt es Geschwister?“
„Wir haben noch einen Sohn, Patrick, er ist vier Jahre alt“, antwortete sie und hatte sich dabei wieder fest im Griff.
Читать дальше