Weininger hatte verstanden und ihm war auch der Hintergrund dieser Drohung durchaus bewusst. Friedrich Rettenbacher war ein maßgebender Vertreter jener Partei, die die Mehrheit im Stadtsenat von Dreistätten besaß, während Alexander Schirmer, der Geschäftsführer der Lager-Verwaltungsgesellschaft, der anderen großen politischen Kraft im Lande nahe stand, die derzeit auf Bundesebene an der Regierung war. Das Lager unterstand nämlich nicht der Stadt Dreistätten, sondern fiel in die Zuständigkeit des Bundes und war damit direkt dem Ministerium unterstellt. Mit Ausnahme der Tatsache, dass es sich auf dem Grund seiner Gemeinde befand, hatte Rettenbacher mit dem Flüchtlingslager also nichts zu tun, ebenso wenig wie mit den Ermittlungen im aktuellen Mordfall. Er hatte somit auf das Lager als größten gesellschaftlichen Reibebaum seines Gemeindegebietes keinerlei Einfluss und konnte nicht ein einziges Wort mitreden, wenn es darum ging, wie dicht es belegt war oder nach welchen Kriterien die Neuaufnahme von Asylwerbern erfolgte. In starken Zeiten wurden in den Bau aus dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts weit über tausend Personen gepfercht, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Das einzige Instrument, dessen er sich in diesem Zusammenhang bedienen konnte, war die öffentliche Meinung. In dieser Hinsicht wäre aber nichts besser verwertbar als der Nachweis, dass Bewohner des Flüchtlingslagers kleine Kinder umbringen.
Das Wissen um diese Umstände und die Tatsache, dass ihm Rettenbacher, wenn auch nicht direkt, so doch über seine Parteikanäle das Leben schwer machen konnte, waren für Weininger genügend Gründe, bei dieser Sache so vorsichtig wie möglich zu sein. Die letzte Bemerkung war allerdings zu viel, als dass er Sie so einfach übergehen konnte.
„Sie sollten einmal darüber nachdenken, was Sie so von sich geben“, sagte er so ruhig, wie es ihm in diesem Augenblick möglich war. „Da es offensichtlich keine weiteren Gesprächsthemen gibt, werde ich mich jetzt wieder meiner Arbeit widmen.“
Er stand auf und verließ grußlos den Raum, ohne dass der Bürgermeister in seinem tiefen gepolsterten Ledersessel noch ein Wort sagen konnte.
Nach dem Gespräch mit Rettenbacher brauchte Weininger noch einen Kaffee in seinem Arbeitszimmer, um ungestört eine Zeit lang über die ganze vertrackte Situation nachdenken zu können. Als er im Polizeikommando eintraf, war zu seiner Überraschung die Amtsstube noch hell erleuchtet. Margreiter, Nicole und Viktor diskutierten lebhaft die Ergebnisse der heutigen Arbeit.
„Was macht Ihr denn noch hier?“, fragte er. „Wollt Ihr den Mord schon am ersten Tag lösen?“
„Wir haben über Einiges nachgedacht“, erwiderte Margreiter, „vor allem über den Ablauf. Es ergibt sich schon eine Menge durch den Todeszeitpunkt, der eigentlich kaum Spielraum lässt.“
„Das hab ich euch schon am Telefon gesagt, als das Ergebnis der Obduktion gekommen ist“, erklärte Weininger, dem, als er zum Nebentisch sah, ein Tablett mit einer Tortenauswahl der Konditorei Hofmüller ins Auge sprang, Schwarzwälder Kirsch, Sacher, Kastanientorte und noch Einiges mehr. Nicole musste zwischendurch bei ihren Eltern vorbeigeschaut haben.
„Jetzt ist mir klar, warum ihr heute noch alle hier seid“, bemerkte er, „darf ich?“
„Dafür sind sie da“, antwortete Nicole, die ihm auch gleich die Kanne mit dem Kaffee reichte.
Weininger lud sich die Kastanientorte, die es so frisch nur jetzt zur Maronizeit gab, auf einen Teller und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Wie fast immer fiel ihm ein Teil der wegen ihrer Größe über den Rand hinausreichenden Torte, original Hofmüller-Format eben, vom Teller und wie meistens, wenn er sich selbst einschenkte, drehte er den Kannendeckel so weit auf, dass er beim Eingießen vornüber fiel.
„Hoppla“, bemerkte er nur. Obwohl Nicole mit der Küchenrolle sofort zur Stelle war, ließ sich nicht verleugnen, dass für morgen eine frische Hose angesagt war.
„Hast du ein Glück, dass du nicht verheiratet bist“, bemerkte Margreiter, „falls du’s einmal beabsichtigen solltest, tu’s nicht, es kann nur böse enden.“
„Ja, ja, schon gut!“, erwiderte Weininger auffallend humorlos.
Obwohl Margreiter natürlich längst wusste, dass sein Chef auf derlei Witzchen merkwürdig reagierte, gab es eine diabolische Seite in ihm, die gelegentlich austesten wollte, ob dieses Spielchen noch funktionierte. Und es funktionierte immer.
„Im Grunde ergibt sich folgende Situation“, begann Nicole, die erkannte, dass es besser war, das Thema zu wechseln, „siebzehn Uhr vierzig kommt der Landstreicher zum Tatort, da ist noch weit und breit nichts zu sehen. Er schläft kurz darauf ein. Ein paar Minuten später treffen die beiden Schwarzen das Mädchen und bringen es um. Motiv derzeit noch unbekannt. Unser dem Alkohol zusprechender Freund wacht auf, als die beiden die Leiche gerade im Gebüsch versteckt haben und sieht sie dann noch fortgehen. Ich meine, das muss unsere Ausgangsüberlegung sein. Was fehlt, ist das Motiv, aber da kann’s viele spontane Gründe geben.“
„Na ja, möglich“, sagte Weininger, der durch die Rückkehr zur Sache auch sein normales Verhalten zurückerlangt hatte, „obwohl ich nicht so unbedingt an diese Art der Spontaneität glaube. Eine Frage stellt sich mir dabei aber sofort: Da bringen zwei Männer ein Mädchen um, das vermutlich geschrien hat, aber der unbemerkt gebliebene Obdachlose, der ein paar Meter weiter schläft, wacht erst auf, als alles vorbei ist und sie nur noch leise miteinander reden. Ach ja, da fällt mir ein, was ist bei euch beiden im Lager heraus gekommen?“
„Noch nicht besonders viel. Wir haben eine Liste der Lagerinsassen bekommen mit den Informationen, die wir benötigen, also vor allem Herkunftsland und Geburtsdatum“, begann Margreiter, „sie haben sie uns auch per E-Mail geschickt, was die Auswertung vereinfacht. Insgesamt sind es achthundertneunundvierzig Personen, davon dreihundertvierundsechzig, also fast die Hälfte, aus Afrika. Jetzt stellt sich die große Frage: Wie gehen wir die Suche nach unseren beiden Verdächtigen an? …… Ach ja, was ich mit dir besprechen wollte, meinst du, wir sollten irgendwas unternehmen, um eine Flucht der beiden, die ja mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Lager kommen, zu verhindern?“
„Was willst du tun?“, entgegnete der Chefinspektor, „aus dem Lager ein Gefängnis machen, solange wir nicht wissen, wer es ist? Nein, wir können momentan, so lange es noch keine konkreten Verdächtigen gibt, gar nichts tun. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, sie wissen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, dass jemand sie gesehen hat und eine Flucht käme einem Schuldeingeständnis gleich. Glaub mir, die werden so schnell nicht davonlaufen.“
„Die Frage ist, wie wir die, die ernsthaft für die Täterschaft in Frage kommen, eingrenzen können“, überlegte Margreiter laut, „dazu haben wir einmal die Hautfarbe, es waren Schwarze, also Herkunft Afrika.“
„Muss nicht sein, ist aber anzunehmen“, bestätigte der Chefinspektor.
„Dann hätten wir noch zwei wichtige Hinweise, erstens, sie waren nicht alt“, setzte Margreiter fort, „also würde ich einmal die Annahme wagen, alles vor Geburtsjahrgang neunzehnhundertachtundachtzig scheidet aus, in Ordnung?“
„Vom Ansatz her schon, aber ich würde einmal nachsehen, wie viel du damit überhaupt gewinnst“, meinte Weininger, „die sind nämlich alle ziemlich jung.“
„Ich kann nachsehen, wenn ihr wollt“, bemerkte Viktor. Als Neuling hielt er sich meistens zurück, wenn seine erfahreneren Kollegen ihre Theorien entwickelten, obwohl Weininger seine Meinung schätzte, da das, was er sagte, fast immer Hand und Fuß hatte.
„Dauert nicht lange“, sagte er, „ich muss nur den Computer hochfahren.“
Читать дальше