„Was Interessantes entdeckt?“, fragte Margreiter.
„Eigentlich gar nichts, offenbar erwürgt, keinerlei Spuren, die auf sexuellen Missbrauch schließen lassen. Sie scheint sich auch nicht gewehrt zu haben, aber wir sollten den Obduktionsbefund abwarten, bevor wir irgendwelche Schlüsse ziehen“, erwiderte Weininger und ging wieder zu Schinnerer, „Sie haben gesagt, ein Obdachloser hat sie gefunden?“
„Ja, er ist in der Umgebung bekannt, streunt einmal da, einmal dort herum, nicht immer in derselben Gemeinde, sonst hätte man ihn da schon längst rausgeschmissen, aber durch seine regelmäßigen Ortswechsel hat er’s bisher geschafft, toleriert zu werden“, gab Schinnerer bereitwillig Auskunft, „wir haben ihn im Revier behalten, da er nicht mit hierher kommen wollte.“
„Hat er irgendwas gesagt?“, fragte Weininger weiter.
„Bisher nur, wo er die Leiche gefunden hat. Er war ziemlich aufgeregt, ist wahrscheinlich zum ersten Mal über eine Leiche gestolpert.“ Das berufsmäßige Grinsen, das bei Schinnerer nach der letzten Bemerkung einsetzte, hatte sich Weininger nie angewöhnt, weil er es seit Beginn seiner Polizeiarbeit als unpassend empfunden hatte.
„Na gut“, sagte er, „hier können wir sowieso nichts mehr tun, wir sollten uns den Landstreicher einmal ansehen, dann können wir, glaub’ ich, für heute Schluss machen.“
Er informierte Schinnerer, dass sie im Dreistättner Polizeiposten noch den Obdachlosen befragen wollten, worauf Viktor, Margreiter und er sich von den Kollegen verabschiedeten.
Zur örtlichen Polizeidienststelle, die sich in unmittelbarer Nähe des Lagers befand, waren es nur ein paar hundert Meter. Der diensthabende Beamte, der von Schinnerer informiert worden war, empfing die Fürstenberger Abordnung bereitwillig und führte sie zu einem lumpenhaft gekleideten Mann mit schmalen, ausgezehrten Gesichtszügen, die unter einem eher dünnen Vollbart hindurchschimmerten. Er saß auf einer Sitzbank im sonst leeren Wachzimmer. Weininger trat auf den Mann zu und wollte gerade die erste Frage stellen, als ihm ein käsig-fauliger Geruch entgegentrat, der ihn fast zurücktaumeln ließ. Während er noch gegen den Brechreiz ankämpfte, gab er Margreiter ein Zeichen, dass er die Vernehmung durchführen sollte. Dieser, obwohl nicht begeistert, war in solchen Dingen doch wesentlich robuster als der Chefinspektor und stellte ohne Rücksicht auf den in ihm aufsteigenden Ekel seine Fragen. Viktor, der die übertriebene Gewissenhaftigkeit des Neulings noch nicht ganz abgelegt hatte, stand in geringem Abstand daneben, um nur ja nichts zu versäumen.
„Guten Abend, wie geht’s?“, fragte Margreiter mit routinierter Freundlichkeit und erkannte sofort, dass bei seinem Gegenüber der Alkohol bereits begonnen hatte, irreversible Spuren zu zeigen. Er nuschelte etwas, das so ähnlich wie „Schönen Abend“ klang, um gleich darauf, ähnlich schwer verständlich „Gibt’s hier nichts zu trinken?“ folgen zu lassen. Margreiter, der merkte, dass es nicht leicht sein würde, zu verwertbaren Aussagen zu kommen, begann sehr vorsichtig.
„Haben Sie alles, was Sie brauchen?“, fragte er. Eine Handbewegung seines Gegenübers sagte ihm, dass alles soweit in Ordnung war.
„Sie wollen was trinken?“, fragte er weiter und als der Obdachlose seinen kurz zuvor geäußerten Wunsch bestätigte, bat er den hiesigen Beamten um einen Cognac. Von früheren Besuchen wusste er, dass normalerweise einer im Kasten stand. Der Dreistättner Kollege überlegte einen Moment, entsprach dann aber dem Wunsch. Das Gläschen, das serviert wurde, war schneller getrunken, als das Einschenken gedauert hatte.
„Wie heißen Sie?“, fragte Margreiter im liebenswürdigsten Tonfall, den er in seinem Repertoire hatte, was bei ihm nicht allzu viel hieß.
„Max“, war die unerwartet verständliche Antwort. Nach einem Schluck Cognac schien es ihm besser zu gehen.
„Und was haben Sie heute gesehen?“, fragte Margreiter, so schnell wie möglich zur Sache kommend.
„Wo?“, erwiderte der Landstreicher. Margreiter sah ihm in die Augen. Er wusste nicht, ob es nur Fopperei war oder ob sein Gesprächspartner wirklich schon so neben den Dingen stand.
„In der Hiblerstraße, heute Abend“, antwortete er.
„Eine Tote, sie ist da gelegen, und hat sich nicht gerührt.“ Die Antwort von Max kam sehr langsam, er schien in Zeitlupe zu denken.
„Ja, das tote Mädchen haben wir auch gesehen“, erklärte Margreiter, „ist Ihnen sonst noch irgendetwas aufgefallen, das vielleicht von Bedeutung sein könnte, haben Sie etwas oder jemanden gesehen, als sie zum toten Mädchen kamen?“
„Ja, ich weiß nicht genau, ich glaub’ schon, kann ich vielleicht noch …… zu trinken …… sie verstehen?“ Und er hielt Margreiter das leere Glas hin.
Nach einem kurzen Blick zum Chefinspektor, den dieser wegen der Besonderheit der Situation mit einem Kopfnicken erwiderte, goss er ihm einen zweiten Cognac ein.
Der Obdachlose schüttete ihn genauso schnell hinunter wie den ersten.
„Na, geht’s besser?“, fragte Margreiter nach einer Weile, so als warte er darauf, dass die Medizin zu wirken begann. „Ist ihnen schon was eingefallen?“
„Ja, ja, langsam kommt’s wieder, es waren zwei von den Schwarzen, diese verdammten Kaffern aus dem Lager haben sie umgebracht …“
„Immer mit der Ruhe“, versuchte Margreiter dem Ausbruch ein Ende zu setzen, „jetzt erzählen sie uns eins nach dem anderen, was Sie gesehen haben.“
„Ich hab’s mir auf der Bank hinter den Büschen gemütlich gemacht … irgendwann, ich muss eingeschlafen sein, da hör ich auf einmal Stimmen. Es waren diese schwarzen Typen … zwei von denen, wie sie irgendwas aushecken …“
„Er hat schon Recht, es sind wirklich zu viele Afrikaner hier, das kann nicht gutgehen. Klauen alle wie die Raben und mindestens jeder zweite von denen verkauft Drogen. Crack, Ecstasy oder sonst irgendeinen Mist.“ Der vom Obdachlosen inspirierte Dreistättner Beamte beendete seinen spontanen Monolog nach einem scharfen Blick Margreiters auf der Stelle.
„Wann war das ungefähr?“, fragte Margreiter.
„Keine Ahnung, ungefähr um Viertel bin ich vom Olympia weg.“
„Viertel was?“
„Viertel sechs, was sonst?“
„Also um Viertel sechs vom Einkaufszentrum in der Stadt in die Hiblerstraße“, ergänzte Margreiter, „kann kaum ein Kilometer sein. Für den Weg braucht man nicht mehr als zehn Minuten.“
Er wandte sich wieder an den Landstreicher.
„Können Sie die Afrikaner, die Sie gesehen haben, genauer beschreiben?“, versuchte Margreiter, mehr zu erfahren. „Haben Sie ihre Gesichter gesehen?“
„Ja, kurz“, war die Antwort, „aber was soll ich da beschreiben, sieht doch einer aus wie der andere. Damit man denen das Handwerk legt, muss man sie alle ausrotten.“
Gestank hin, Gestank her, dem Chefinspektor, der bisher ruhig zugehört hatte, wurde es jetzt zu bunt.
„Jetzt hör’ mir gut zu, mein Freund, du beantwortest die unsere Fragen, mehr nicht. Andernfalls bist du die längste Zeit durch die Gegend spaziert, dann kommst du hier nämlich nicht mehr raus.“
Die kleine Unbeherrschtheit Weiningers verfehlte nicht ihre Wirkung. Der Säufer war sichtlich eingeschüchtert. Aber nicht nur er, auch der daneben stehende Beamte wirkte etwas betreten.
„Können Sie das Alter der beiden schätzen, glauben Sie, Sie würden sie zwischen anderen – schwarzen – Personen wieder erkennen, wenn Sie sie sehen?“, setzte Margreiter schließlich fort.
Der Landstreicher gab sich Mühe, so zu wirken als dächte er ernsthaft nach und sagte dann: „Sie waren jung, sehr jung …… das heißt, ihre Stimmen waren jung, die Gesichter hab ich kaum gesehen … ich weiß nicht, ob ich sie erkennen würde.“
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