Ihre Probleme indes hatten sich mittlerweile verlagert. Das große Damoklesschwert, das jetzt über ihnen schwebte, war die Gefahr, wieder in ihre Heimat zurück befördert zu werden, wo es keine Arbeit gab, wo man jeden Tag überlegen musste, wie man zu etwas Essbarem kommen konnte, ohne jemanden zu überfallen und wo nie auszuschließen war, dass wieder eine der Kampfparteien Anspruch auf einen erhob und man – wenn es gut ging – vor die Wahl gestellt wurde, entweder sofort erschossen zu werden oder zu kämpfen, ohne zu wissen, wofür.
Die beiden Kongolesen waren jetzt sechzehn Jahre alt und entschlossen, alles dafür zu tun, um aus ihrem zu Hause aufgezwungenen Kreislauf des Dahinvegetierens und Tötens heraus zu einem geordneten Leben zu kommen, das zwar als Sehnsucht vor ihnen lag, das sie sich aber noch nicht einmal real vorstellen konnten.
„Die beiden Idioten müssen letzte Nacht wieder mit den anderen zusammengetroffen sein. Bis nach Mitternacht hat es sich auf dem Gang abgespielt, ich habe gedacht, jetzt schlagen sie sich endgültig die Schädel ein“, sagte Obike.
Die beiden Idioten, das waren zwei Ukrainer, die seit knapp einer Woche im selben Zimmer wie sie selbst schliefen, und ‚die anderen’ waren eine Gruppe von Tschetschenen, besser gesagt, deren männliche Vertreter, die seit eineinhalb Wochen im Lager einquartiert waren.
„Ich warte nur darauf, dass irgendwann einer von denen mit durchgeschnittener Kehle am Gang liegt.“ Die Antwort von Rasul war von keinerlei Mitgefühl gekennzeichnet. Diesen Luxus hatten sie sich in ihrem bisherigen Leben, das nur darauf ausgerichtet gewesen war, ihre Haut zu retten, nicht leisten können. Der Lärm und die Schreie der anderen Heiminsassen ließen etwas in ihren Köpfen auferstehen, das sie am liebsten schon lange begraben hätten, nämlich die Gespenster aus ihrer Soldatenzeit, als sie immer damit rechnen mussten, im Schlaf umgebracht zu werden. Überhaupt war es die Nacht, in der sie schutzlos waren gegenüber den Eitergeschwüren, die in ihrem Inneren arbeiteten. In der Nacht brachen sie auf und ließen die beiden gerade dem Kindesalter Entwachsenen nicht zur Ruhe kommen. Und die Schreie der Flüchtlinge im Lager bildeten den geeigneten Katalysator, um die Erinnerungen zum Fließen zu bringen, Erinnerungen, die sie ihr ganzes Leben begleiten würden. Seit sie angekommen waren, wurden sie psychologisch betreut, aber diese so genannte begleitende Kontrolle war ein einmal pro Woche stattfindendes Gespräch mit einem der Lagerpsychologen. Immerhin war es jedes Mal derselbe, die Fälle wurden unter den Betreuern nicht weiter gegeben. Bisher hatte er sie immer nur gefragt, wie es ihnen gehe, ob etwas nicht in Ordnung sei, wie sie schliefen, ob sie Angstgefühle hätten und ähnliches Zeug. Teilweise verstanden sie die Fragen nicht einmal. Ziemlich schnell hatten sie erkannt, dass sie ohnehin nicht viel sagen mussten, gelegentliches Kopfnicken und da und dort ein eingestreuter Satz, am besten nach einer Frage, bei der sie zu wissen glaubten, was ungefähr gemeint war, genügte vollauf. Diese halbe Stunde pro Woche gehörte eben dazu, wenn man hier bleiben wollte.
Sie bogen in eine Seitenstraße ein, die nach etwa zweihundert Metern auf die Zufahrtsstraße zum Lager traf. Von dort hatte man noch knapp dreihundert Meter zu gehen. Wie fast jeden Tag waren sie im Grunde recht ziellos im kleinen Stadtzentrum von Dreistätten umherspaziert, bis sie sich in einem Lebensmittelmarkt ein Getränk gekauft hatten, um es auf einer malerisch von der Nachmittagssonne beschienenen Bank zu leeren. Die fünfzig Euro Taschengeld, die ihnen als in die Bundesbetreuung aufgenommene Asylwerber zustanden, reichten gerade für derlei bescheidene Annehmlichkeiten.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Als Obike etwa fünfzig Meter vor dem Ende der Straße auf die linke Seite blickte, wo eine von der Straßenbeleuchtung nur unzureichend beschienene strauchbewachsene Grünfläche sichtbar wurde, sprang ihm ein heller Fleck ins Auge. Genauer besehen schien es etwas zu sein, das vom Gebüsch verborgen werden sollte, von dem aber ein Teil, wenn auch nur sehr klein und kaum zu erkennen, sichtbar war. Vielleicht war es die ungewollt reiche Erfahrung, die sich Obike seit seiner Zeit als Kindersoldat mit gewissen Dingen erworben hatte, aber beim Nähertreten wusste er trotz des Wenigen, das das Blattwerk freigab, sofort, was es war, auch wenn er sich weigerte, es zu glauben. Rasul folgte ihm zu der Stelle am Straßenrand, und als sie die Zweige beiseite bogen, wurde es Gewissheit. Im Gebüsch lag die Leiche eines kleinen Mädchens, das acht oder neun Jahre alt sein mochte. Bei diesem Anblick konnten beide nicht verhindern, dass die Erinnerungen an die vielen zum Teil verstümmelten Leichen, die sie in der kurzen Zeit ihres bisherigen Lebens schon gesehen hatten, wieder lebendig wurden. Aber dennoch sträubte sich etwas in ihnen gegen das, was sie sahen. Diese Dinge gehörten nicht hierher. Elend, Krieg, Kinder, die starben, das war zwar in dem Land, aus dem sie kamen, an der Tagesordnung, aber wie war es möglich, dass sie auch hier auf dieses Gesicht des Todes trafen? Sie brauchten beide ein paar Augenblicke, um zu begreifen, was los war. Vor ihnen lag das Opfer eines Verbrechens.
„Verdammt, das haben wir gebraucht“, sagte Rasul zu seinem Freund, als ihm klar wurde, dass die Lage, in der sie sich befanden, nicht ganz einfach war.
„Ich glaube, man müsste es der Polizei melden“, erwiderte Obike, aber es klang nicht nach einer Selbstverständlichkeit, sondern wie eine etwas ungewöhnliche Vorschrift, die es in diesem Land, in dem sie sich jetzt befanden, gab.
„Und was passiert dann?“, fragte Rasul, „glaubst du, sie werden denken, wir haben was damit zu tun?“
Obike, dem so etwas bis dahin noch gar nicht in den Sinn gekommen war, begann zu überlegen. „Ich weiß es nicht“, antwortete er schließlich.
Plötzlich drehte sich Rasul nach mehreren Seiten um und flüsterte Obike zu: „Komm, verschwinden wir so schnell wie möglich, bevor uns jemand sieht. Am besten, wir waren gar nicht hier und haben von all dem nichts gesehen.“
Sie blickten sich um, sahen niemanden in unmittelbarer Umgebung und gingen so unauffällig wie möglich den Weg weiter bis zur Zufahrtsstraße zum Lager, die sie rechts hinunter bogen.
Als sie weg waren, versank der Platz, an dem das tote Mädchen lag, wieder in Schweigen. Erst nach etwa einer Minute wurde ein Rascheln hörbar. Jemand, der von den Afrikanern geweckt worden war, kam langsam aus seinem Unterschlupf, um nachzusehen, ob der Wortwechsel der beiden im Gebüsch eine bestimmte Ursache gehabt hatte. Als er den Grund der Unterhaltung erkannte, entfuhr ihm ein unterdrückter Laut und er benötigte einige Augenblicke, um das Gesehene zu verdauen. Sobald er die Fassung wiedergewonnen hatte, sammelte er so schnell wie möglich seine Habseligkeiten ein und ging schnurstracks Richtung Stadtzentrum.
Gerade als Chefinspektor Weininger in seine Übergangsjacke schlüpfen wollte, um sich in den wohlverdienten Feierabend zu begeben, begann sein Handy, Töne von sich zu geben. Es waren die ersten Takte der g-Moll-Symphonie von Mozart, eine Melodie, die er irgendwann beim Herumprobieren eingestellt hatte. Mittlerweile wusste er nicht mehr, wie der Klingelton zu ändern war, weshalb er sich wohl oder übel an die auf die Dauer sehr penetrante Tonfolge gewöhnen musste. Er zögerte kurz, während er in Sekundenschnelle die Geruhsamkeit eines gemütlichen Tagesausklangs dahinschwinden sah. Schließlich gewann aber, wie immer in solchen Situationen, das Pflichtgefühl die Oberhand und er drückte auf den Verbindungsknopf.
„Weininger!“, schleuderte er ob der späten Stunde etwas forscher als üblich in den Äther.
Es war Revierinspektor Schinnerer vom Polizeiposten Dreistätten, der keine guten Nachrichten hatte. Ein Landstreicher hatte ein totes Mädchen gefunden, ziemlich sicher ein Verbrechen, möglicherweise sexuell motiviert. Für Schinnerer war die Sache jedenfalls eine Nummer zu groß, was bedeutete, dass der Chefinspektor, wie befürchtet, sich ab sofort über seine Abendbeschäftigung keine Gedanken mehr zu machen brauchte. Er fragte nach dem Fundort. Wie sich herausstellte, war die Leiche in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingslagers entdeckt worden. Nach einem knappen „Ich komme, so schnell ich kann“, beendete er das Gespräch, um gleich darauf die Verbindung mit Revierinspektor Margreiter, seinem dienstältesten Kollegen im Polizeikommando Fürstenberg, herzustellen.
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