„Was liegst du da am Boden, verdammte Schlampe“, schrie der Mann auf Russisch, während er sie mit grobem Griff am Arm packte, „der Chef will dich sehen.“
Sie spürte schmerzhaft seine zupackenden Hände und ließ sich fort ziehen, ohne Widerstand zu leisten oder auch nur zu wissen, wie ihr geschah. Als sie das angrenzende Zimmer durchquerten, erkannte sie im Vorübergehen einen Kellerraum, eine Art Kammer, spärlich möbliert und mit seltsamen Utensilien ausgestattet. Über eine Treppe gelangten sie in einen Gang, in dem von einem angrenzenden Raum Musik hörbar war.
An dessen Ende erschien eine Tür, vor der sie stehen blieben. Der muskelbepackte Russe klopfte, während er sie weiter festhielt. Es öffnete ein Typ von ähnlichem Kaliber und ihr Begleiter stieß sie hinein.
Der Raum, den sie betraten, war im Gegensatz zu allem anderen, was sie in diesem Gebäude bisher gesehen hatte, gediegen, fast luxuriös eingerichtet. Die Wände verbreiteten einen rötlichen Schimmer durch die Samttapeten, mit denen sie ausgeschlagen waren. Sie trugen Kristallluster mit Jugendstilornamenten. Auch das Mobiliar strahlte durchwegs fast übertriebene Eleganz aus. Neben einem in stilvollem Mahagoni gehaltenem Schreibtisch erstreckte sich eine geschwungene cremefarbene Ledersitzgruppe mit einem Couchtisch aus geschliffenem Kristallglas.
An einem Schreibtisch am anderen Ende des Raums saß jemand, dessen Aussehen ihr verborgen blieb, da zwei Männer mit dem Körperbau von Bodyguards vor ihm standen, um ihn zu verdecken. Sie durfte sein Gesicht nicht sehen, so viel war klar. Zwischen den beiden vierschrötigen Gestalten hindurch konnte sie nur wahrnehmen, dass er einen Anzug trug.
Er sagte etwas in ihre Richtung, seine Stimme hatte etwas Unbestimmtes, Seelenloses in ihrem Klang, etwas, das nichts über die Person dahinter verriet. Sie konnte ihn nicht verstehen, glaubte aber, die harten Betonungen der deutschen Sprache erkannt zu haben.
Ihr Begleiter stieß sie grob in die Rippen.
„Ich hoffe, jetzt wirst du mich verstehen.“ Der Mann im Anzug versuchte es diesmal auf Englisch, das sie leidlich beherrschte. Er sprach nicht unfreundlich, aber gerade dadurch bekam seine seltsam leere Stimme etwas zutiefst Beunruhigendes.
„Lajla, richtig?“, fragte er.
Sie nickte.
„Du weißt, wo du hier bist?“
Kaum wahrnehmbar schüttelte sie den Kopf.
„Nun, dann wird es Zeit, dass es dir jemand erklärt. Wir sind hier ein Club. Die Leute, die zu uns kommen, haben eine Menge Geld, das sie hier ausgeben wollen. Deswegen soll ihnen auch etwas geboten werden. Dafür seid ihr zuständig, du und die anderen Mädchen. Du wirst sie bald kennen lernen. Sie werden sich um dich kümmern und dir alles beibringen, was du benötigst.“
Er machte eine Pause.
„Dafür kümmern wir uns auch um dich. Du brauchst keine Angst zu haben, du wirst nicht dorthin zurück geschickt, wo du herkommst. Alles ist ganz legal, wir besorgen dir auch Papiere. Die bleiben natürlich bei uns, für den Fall, dass wir kontrolliert werden.“
Wieder unterbrach er seinen Redefluss.
„Mit Außenstehenden, egal ob Kunde oder jemand anderer, hast du keine Gespräche zu führen, sonst wirst du Probleme bekommen. Mach deine Arbeit, und das gut, im Übrigen halt’ den Mund.“
Die Art, wie er das sagte, diese seltsame Mischung aus Freundlichkeit und Drohung, ließ Lajla mehr erschauern, als wenn er sie angebrüllt hätte.
„Im Grunde wär’s das“, setzte er fort, „am besten du suchst jetzt die anderen auf, damit sie gleich mit deiner“ – er machte eine Pause – „,Einschulung‘ beginnen.“
Der Russe nahm sie wieder mit dem bereits bekannten durchdringenden Griff am Arm mit sich.
„Ach ja, etwas habe ich noch vergessen.“ Kurz vor Erreichen der Tür zwang ihr Begleiter sie, sich noch einmal umzudrehen. „Es wäre nicht klug von dir, zu versuchen, von hier wegzukommen. Es ist noch keiner gelungen. Du kannst mir glauben, wir kriegen dich, und was dich dann erwartet, willst du lieber nicht wissen. Aber damit du auch einen Eindruck davon bekommst, was in so einem Fall mit dir geschieht, wird dir Sergej einen Vorgeschmack davon geben. Das kann ich dir leider nicht ersparen.“
Nach diesen Worten öffnete ihr Begleiter die Tür und riss sie, etwas grober und brutaler als zuvor, mit sich, die Richtung, die sie zuvor gekommen waren, zurück. Sie ging mit wie in Trance. Als sie die Stufen ins Kellerabteil hinab stieg, überfiel sie das Gefühl hinabzugleiten, einzutauchen in einen See, einen kalten See aus Schmerz und Tränen, in dem sie ertrinken würde, ohne irgendetwas dagegen tun zu können.
Dienstag, 28. September 15:45 Uhr
Das Zimmer war groß und unpersönlich. Insgesamt standen acht Betten an den seelenlosen weißen Wänden, die aussahen, als wären sie erst vor kurzem getüncht worden. Nur an einzelnen Stellen liefen hässliche schwarze Striemen die Mauern entlang, gleich Narben, die das Gesicht des Raumes entstellten. Sie stammten von den Zimmerinsassen, die ihre Schuhe nur selten auszogen, wenn sie sich auf ihre Liegestätten legten. Vier der Betten waren bezogen und zum Teil mit Kleidern und allem möglichen Gerümpel belegt. Die hintere Seite des Zimmers bildete eine Kastenfront im selben sterilen Weiß, das auch die Wände bedeckte. Bei kurzem Hinsehen drängte sich auch hier der Eindruck einer kahlen Wand auf.
Sofort, als der Wachebeamte die Tür geöffnet hatte, war Levon klar geworden, dass seine Frau Sona und er noch nicht die Station ihrer Reise erreicht hatten, an der sie sich heimisch fühlen durften. Dieses Domizil, das sie für die Dauer ihres Asylverfahrens beziehen mussten, war nicht mehr als ein notwendiges Übel, das auf ihrem Weg in das erhoffte bessere Leben eben zu ertragen war.
Gerade zehn Stunden war es her, dass die beiden die Tür ihrer Wohnung in Jerewan, die mehr als zwanzig Jahre das Zentrum ihres Lebens gewesen war, zum letzten Mal geschlossen und das Taxi zum Flughafen bestiegen hatten. Es sollte sie ihrem Traum entgegen bringen, die Zeit, die ihnen noch blieb, in der Nähe ihres Sohnes Raffi zu verbringen, der vor acht Jahren mit seiner Frau Leniya nach Europa gegangen und schließlich in Österreich hängen geblieben war. Als talentierter Musiker hatte er sehr bald eine Arbeit als Violinlehrer am Wiener Konservatorium bekommen und seitdem immer wieder seine Eltern bearbeitet, sie mögen ihm nachkommen, damit die Familie wieder an einem Ort vereint wäre, in einem Land, das allen die Möglichkeit bot, ein gutes Leben zu führen.
Auf ihre große Reise hatten Sona und Levon nur das Notwendigste mitgenommen, zwei große Koffer mit Wäsche und zwei kleinere mit Büchern und einigen Sachen, von denen sie sich nicht hatten trennen wollen und die nicht viel Platz einnahmen. Ein Stück, an dem Levons Herz besonders gehangen hatte, war zurück geblieben, sein Cello, dem er immer die wehmütigsten Töne entlockt hatte. Zu groß und zu sperrig für die Reise, hatten sie es zusammen mit den Einrichtungsgegenständen, die sie in ihrer Wohnung in Jerewan zurück gelassen hatten, ihrem Vermieter für gerade einmal zweihundert Dollar verkauft. Geld, das sie jetzt brauchen konnten, um über die erste Zeit zu kommen. Ihr Sohn würde sie zwar nach Kräften unterstützen, war aber selbst alles andere als auf Rosen gebettet. Er bewohnte mit seiner Frau Leniya eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Simmering, einem Stadtteil Wiens, der nicht das reichste Publikum beherbergte. Dennoch war die Miete für ihre Verhältnisse hoch und seine Lehrverpflichtung am Konservatorium umfasste nicht allzu viele Stunden. Dazu kam, dass Leniya noch immer ohne Arbeit dastand, nachdem sie erst vor kurzem ihre Stelle als Aushilfskraft in einem Lebensmittelmarkt verloren hatte.
In Armenien war Levon Musiker gewesen, hatte in Jerewan an der Musikhochschule Cello und Klavier unterrichtet, eine Beschäftigung, die ihn zwar erfüllte, von der man aber dort, wo er herkam, kaum leben konnte, schon gar nicht, wenn die Ehefrau, wie es bei Sona der Fall war, zu Hause blieb.
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