Marian Liebknecht - Flucht

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Lajla, eine junge Tschetschenin, die nach Österreich geflohen ist, findet sich plötzlich, ohne zu wissen wie, in einem Bordell wieder, in dem sie misshandelt und zur Prostitution gezwungen wird. Ein Entkommen scheint unmöglich.
Kurze Zeit später wird ein Schulmädchen tot aufgefunden.
Dies alles ereignet sich in Dreistätten, einer kleinen Stadt nicht weit von Wien. Normalerweise lebt es sich dort recht beschaulich. Etwas getrübt wird die Idylle nur durch ein riesiges Flüchtlingslager innerhalb der Stadtgrenzen, das in regelmäßigen Abständen für politische Diskussionen sorgt.
Mit dem Tod des jungen Mädchens ist es mit dem ruhigen Leben vorbei. Es beginnt eine Serie von Verbrechen, die alle irgendwie mit dem Lager zu tun zu haben scheinen, und die meisten der Beteiligten verbindet eines: Sie sind auf der Flucht, weit weg von ihrer Heimat, Fremde, die niemand haben will.
Der Sog der Ereignisse führt schließlich zu einer Eskalation von Hass und Gewalt, die es den Ermittlern rund um Chefinspektor Weininger nicht leicht machen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

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„Hallo, hier ist Weininger.“ Er meldete sich nie mit seinem Vornamen, obwohl er mit allen in der Abteilung das Du-Wort pflegte. „Schlechte Nachrichten, in Dreistätten haben sie eine Mädchenleiche gefunden, in der Hiblerstraße, gleich hinter dem Lager. Komm so schnell wie möglich hin und bring, wenn möglich auch Nicole und Viktor mit. Schließlich werden wir ja alle mit den Ermittlungen zu tun haben.“

„Ein totes Mädchen?“, erwiderte Margreiter überrascht, „Ist schon Näheres über die Umstände bekannt? Ich kann mich gar nicht erinnern, dass es so was bei uns schon einmal gegeben hat.“

„Ich weiß selbst noch so gut wie nichts“, antwortete der Chefinspektor, „Schinnerer hat irgendwas von ‚möglicherweise sexuell motiviert’ gesagt, aber in so einem Fall liegt man mit dieser Vermutung wohl selten daneben.“

„Na gut“, bemerkte Margreiter, „ich versuch’, hier so schnell wie möglich wegzukommen, es wird aber eine halbe Stunde dauern. Dann bis gleich.“

Der Chefinspektor interessierte sich nicht für den Grund, der seinen jüngeren Kollegen daran hinderte, sofort zu kommen. Gelegentlich waren zwar Geschichten von seinem etwas turbulenten Privatleben zu hören, er hatte es aber immer vermieden, ihn darauf anzusprechen. Wichtig für ihn war, zu wissen, dass er sich jederzeit auf Margreiter verlassen konnte.

Weininger leitete die Kriminalabteilung des Bezirkspolizeikommandos Fürstenberg jetzt schon fast fünfzehn Jahre lang und kannte jeden Winkel seiner Arbeit mittlerweile so gut, dass es Momente gab, in denen seine Routine ihn selbst fast beängstigte. Der Bezirk Fürstenberg war allerdings auch nicht der Ort, der ständig neue Herausforderungen an die kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit stellte. Das Gros der Fälle, die über Weiningers Schreibtisch wanderten, bestand in Kleinkriminalität, von denen vor allem die Zahl der Drogendelikte hervorstach, eine Tatsache, die vielfach in Zusammenhang mit der räumlichen Nähe zu eben dem Flüchtlingslager gebracht wurde, in dessen Umgebung man das tote Mädchen gefunden hatte. Daneben stieg in letzter Zeit auch die Zahl der Wirtschaftsdelikte an, was wiederum als Ausfluss der schlechten Konjunktur der vergangenen Jahre gesehen wurde. Weininger gab auf derartige Analysen nicht allzu viel, sondern beschränkte sich darauf, seine Arbeit so gut wie möglich zu erledigen.

Er war vor fünfundzwanzig Jahren in den Dienst der Polizei eingetreten, nachdem er, solange er denken konnte, nie etwas anderes werden wollte als Polizist. Seine Eltern waren Arbeiter in einer Textilfabrik gewesen und noch heute sah er ihr stolzes Gesicht vor sich, als sie erfahren hatten, dass ihr Sohn die Aufnahmeprüfung für die Polizeischule geschafft hatte. Ihre Unterstützung und ihr Vertrauen waren ihm auch später noch Motivation und Antriebsfeder gewesen, die seine Einstellung zur Arbeit bestimmt hatten, auch dann noch, als sie längst nicht mehr lebten. An seiner kompromisslosen Haltung, was die Arbeit betraf, war allerdings auch die einzige ernsthafte Liebe in seinem Leben gescheitert. Er wollte damals noch nicht heiraten, sie schon. Was weiter geschah, entbehrte nicht einer gewissen Folgerichtigkeit: Sie heiratete einen anderen. Weininger hatte nie ganz verwunden, wie die Dinge damals gelaufen waren. Anfangs war er es gewesen, der sich als Betrogener gefühlt hatte. Später allerdings war er sich nach und nach seines eigenen Anteiles am Zerplatzen der damaligen Träume bewusst geworden. Die kompromisslose Sturheit, mit der er über vielleicht berechtigte Wünsche hinweggegangen war, hatte sich im langsamen Prozess dieser Erkenntnis immer schmerzlicher in sein Bewusstsein gebrannt. Doch späte Reue hat in der Liebe keinen Stellenwert. Was vorbei ist, ist vorbei. Mittlerweile war eine mehr oder weniger dicke Vernarbung über die Wunden dieses Lebensabschnittes gewachsen. Dass nicht alle in diesem Zusammenhang entstandenen Verletzungen völlig spurlos verheilt waren, zeigte sich allerdings noch heute. Immer dann, wenn jemand sein Verhältnis zu Frauen ansprach, es konnte auch eine bestimmte Frau gemeint sein, wurde Weininger seltsam. Bei solchen Gelegenheiten, wie harmlos die Bemerkung auch sein mochte, war er außerstande, ebenso harmlos zu reagieren. Alles, was er dann heraus brachte, war ein unvermitteltes „Lassen wir das“ und es kam vor, dass er seinen Gesprächspartner, wollte dieser am Gegenstand festhalten, einfach stehen ließ. Diese etwas linkisch wirkende Eigenschaft hatte verhindert, dass er seit dem emotionalen Desaster seiner ersten und einzigen Liebe auch nur in die Nähe einer neuerlichen Beziehung zu einer Frau gelangt war. Außerdem stand er durch diese merkwürdige Eigenart da und dort im Ruf eines Frauenhassers. Manche hatten sogar den Verdacht, er wäre vom anderen Ufer. Doch sowohl das eine als auch das andere war Unsinn. Alles, was dahinter stand, war ein Ort in seinem Herzen, den er nicht mehr betreten wollte. Wenn aber ein anderer ihn in dessen Nähe drängte, wusste er nichts anderes, als sich zu wehren.

Was den Dienst anlangte, ließ Weininger keine halben Sachen zu. Eine Marscherleichterung hatte er sich im Laufe der Jahre allerdings angewöhnt. Die tägliche Knochenarbeit, also die Durchführung von Vernehmungen, das Verfassen von Berichten und der ganze Kleinkram, der den Großteil der Arbeit einer Kriminalabteilung ausmachte, waren seit einiger Zeit auf seine drei Mitarbeiter aufgeteilt. Er selbst trat vor allem dann in Aktion, wenn es sich um besonders wichtige Angelegenheiten handelte. Mit zunehmendem Alter – er stand jetzt immerhin zwei Jahre vor seinem Fünfzigsten – stiegen die Ansprüche an die Fälle, die er sich selbst vorbehielt, allerdings stetig, was sein Arbeitspensum im selben Maß reduzierte. Nicht zuletzt lag das am uneingeschränkten Vertrauen, das er seinen Mitarbeitern entgegenbrachte.

Margreiter beispielsweise war schon über acht Jahre in Weiningers Abteilung. Er hatte im Polizeiposten Bad Schönau, etwa zehn Kilometer von Fürstenberg entfernt, angefangen, wo ihm aber recht bald klar geworden war, dass ihn, den die Lust am Abenteuer zur Polizei getrieben hatte, wohl nur die kriminalpolizeiliche Tätigkeit befriedigen konnte. Deshalb hatte er sich, als er noch Streifenpolizist gewesen war, für die kriminalistische Ausbildung gemeldet. Nach deren erfolgreichem Abschluss war er nach Fürstenberg versetzt worden. Wenn sich auch entgegen seinen Erwartungen die Arbeit nicht als permanente Abfolge von Sondereinsätzen a là „James Bond“ oder „Kobra übernehmen Sie“ herausgestellt hatte, so war Margreiter im Lauf der Zeit doch immer mehr hineingewachsen und mit zunehmender Verantwortung hatte er auch Interessen und Talente an sich entdeckt, die über die pure Lust am Nervenkitzel weit hinausgingen. Auf diese Weise war mittlerweile ein umsichtiger und gewissenhafter Ermittler aus ihm geworden, der bei seinen Untersuchungen keine noch so vage Möglichkeit ausließ. Zudem besaß er die Kombinationsgabe, aus dem zusammengetragenen Material die richtigen Schlüsse zu ziehen, wenn auch seinem Temperament entsprechend manchmal etwas zu voreilig und ungestüm. Mit dieser Eigenschaft war er gerade bei Weininger gut aufgehoben, der mit seiner gesetzten Art immer wieder dafür sorgte, dass er nicht über das Ziel hinaus schoss.

In seiner Freizeit ließ Margreiter allerdings keine Möglichkeit aus, seine Vorliebe für Gefahr und Abenteuer auszuleben. Fast an jedem Wochenende frönte er seinem Lieblingshobby, der Abrichtung von Hunden. Dabei hatte er den größten Spaß, wenn er richtige Kampfmaschinen vorgesetzt bekam, die ihm alles abverlangten. Dieses Vergnügen wurde nicht einmal durch die Spötteleien der Kollegen getrübt, die am Montag nach einem solchen Ereignis fast automatisch folgten, wenn sein Gesicht wieder einmal an einen persischen Kämpfer nach der Schlacht bei Issos erinnerte.

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