„Na gut“, erwiderte Margreiter etwas nachdenklich, „was ist dann passiert, was haben die beiden gemacht?“
„Na ja, sie sind dort gestanden …… nach einer Weile sind sie dann gegangen …… oder …… nein, erst haben sie sich nach allen Seiten hin umgedreht, als ob sie sicher gehen wollten, dass niemand sie gesehen hat, dann haben sie sich weggeschlichen.“
„Und am Anfang, was haben sie da gemacht, auch nur geredet?“, fragte Margreiter.
„Als ich aufgewacht bin, hatten sie die Kleine ja schon umgebracht, die Schweine, deshalb hab’ ich davon nichts mehr mitbekommen“, sagte der Säufer mit verkniffenem Gesichtsausdruck.
„Also haben Sie die beiden Schwarzen nur reden gehört, Sie haben aber nicht gesehen, wie sie das Mädchen getötet haben.“
„Aber das ist doch klar, dass die sie umgebracht haben“, rief der Landstreicher jetzt aufgebracht, als er begriff, worauf Margreiter hinaus wollte, „warum sind sie denn nicht so wie ich zur Polizei gegangen, wenn sie sie nicht umgebracht haben?“
„Die Fragen, die sich stellen, werden wir zu lösen haben, nicht Sie“, sagte Margreiter abschließend und beendete damit die Vernehmung. Zwischendurch hatte er sich immer wieder Notizen gemacht.
„Sie bleiben die Nacht über hier, morgen komme ich mit einer Niederschrift Ihrer Aussage, die Sie dann unterschreiben“, fügte er noch an, eine Mitteilung, die der Obdachlose widerspruchslos entgegennahm. Offenbar war es ihm gar nicht so unangenehm, hin und wieder bei der Polizei zu übernachten.
Weininger teilte dem Dreistättner Beamten mit, dass er den Landstreicher noch einen Tag dabehalten müsse. Dann verließ er mit Viktor und Margreiter den Posten.
„Wo ist eigentlich Nicole?“, fragte er, als sie wieder auf der Straße waren.
„Die war auf irgendeiner Party in Fünfkirchen. Sie hat da anscheinend Freunde“, antwortete Margreiter. „Es hätt’ sich nicht ausgezahlt, deswegen zu kommen. Wahrscheinlich wär’ sie noch gar nicht hier.“
Nach einer Pause fragte er: „Was denkst du eigentlich über das Ganze?“
„Eine unangenehme Angelegenheit“, antwortete Weininger, „die Aussage war genau das, was wir brauchen können. Ich sehe schon die Schlagzeilen in der Zeitung: ‚Einheimisches Mädchen von Lagerinsassen ermordet. Sperrt diese Mördergrube endlich zu!’ Und wenn ich diesen Alkoholiker richtig einschätze, geht der auch noch zur Presse. Deshalb möcht ich ihn noch ein paar Tage festhalten, was ja kein Problem ist, da er offenbar nicht einmal einen Wohnsitz hat.“
Margreiter nickte zustimmend. „Der Mord wird sicher Staub aufwirbeln. Glaubst du, es könnten wirklich welche aus dem Lager gewesen sein?“
„Es ist viel zu früh, darüber zu spekulieren. Momentan kann man noch gar nichts sagen, wir müssen jetzt einmal so viele Informationen wie möglich sammeln. Am besten, ihr seht euch morgen im Lager um. Die beiden Schwarzen sollten wir so schnell wie möglich aufstöbern, das würde uns weiterbringen, denn ich glaube, wenn wir sie erst haben, wissen wir ziemlich schnell, ob sie für die Tat in Frage kommen. Außerdem müssen wir das Umfeld der Kleinen so genau wie möglich durchleuchten. Das macht am besten Nicole.“
„Das Benehmen der beiden Schwarzen am Tatort, von denen der Obdachlose gesprochen hat, ist schon sehr verdächtig“, warf Viktor ein, „immer vorausgesetzt, die Aussage ist verlässlich.“
„Man kann zu dem Typen stehen, wie man will“, erwiderte Weininger, „aber seine Angaben würde ich bis auf Weiteres nicht anzweifeln. Trotzdem sind die beiden, die er gesehen hat, nicht automatisch die Mörder. Es kann viele Gründe geben, warum sie so reagiert haben.“
Sie waren bei Weiningers Auto, einem alten Toyota Corolla, angekommen. Weininger und Viktor verabschiedeten sich.
„Na dann“, erklärte der Chefinspektor, als er einstieg, „morgen spätestens um neun im Büro, zur Befehlsausgabe. Gute Nacht!“
Mittwoch, 6. Oktober 9:30 Uhr
Als Margreiter und Viktor durch das große Tor des Lagers ins Innere traten, stieg ihnen der Geruch nach frischen Semmeln und Frühstückskaffee in die Nase. Viktor fühlte sich an seine Bundesheerzeit in der Marokkanerkaserne in Wien erinnert, die für ihre gute Verpflegung bekannt gewesen war. Während seines Militärdienstes hatte er freilich festgestellt, dass dieser Ruf wohl nur in Relation zu anderen militärischen Einrichtungen seine Berechtigung besaß.
Da sie ihren Besuch telefonisch angekündigt hatten, erwartete sie der Geschäftsführer des Lagers, Alexander Schirmer, bereits. Direktor Schirmer war von Humano Serve vor etwas mehr als einem Jahr mit der Führung des Lagers Dreistätten betraut worden. Humano Serve, das war eine private Gesellschaft, deren Geschäftszweck in der Verwaltung von Betreuungseinrichtungen aller Art bestand. Pflegeheime, Pensionistenheime, und eben Flüchtlingsbetreuungsstätten. Das Unternehmen war aus einem vom Ministerium durchführten langwierigen Ausschreibungsverfahren als günstigster Betreiber hervor gegangen und daraufhin mit der Verwaltung des Lagers beauftragt worden. Diese Übertragung einer öffentlichen Betreuungsinstitution in private Hände war Bestandteil eines weit reichenden Planes, mit dem eine ganze Reihe von Einrichtungen aus der unmittelbaren staatlichen Verwaltung entlassen werden sollten. Die Firma Humano Serve war seit den eineinhalb Jahren der Verwaltung des Lagers wegen ihrer in erster Linie auf Gewinnerzielung und nicht auf Verwirklichung gesetzlicher Vorgaben ausgerichteten Betriebsführung immer wieder lautstark kritisiert worden. Die Tatsache, dass sie bisher noch jedem Sturm erfolgreich getrotzt hatte, legte den Schluss nahe, dass die Gesellschaft und damit auch Schirmer in der Wirklichkeit des politischen Lebens sehr starke Verbündete besaßen. Es war nicht unausgesprochen geblieben, dass diese Verbindungen zur Politik auch beim Zuschlag für die Verwaltung des Lagers eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben könnten, allerdings wurden derartige Vermutungen aus Angst vor Klagen sehr vorsichtig geäußert. Es konnte auch nie etwas in diese Richtung bewiesen werden.
Schirmers Büro entsprach der offensichtlichen Philosophie der Organisation, Dinge so lange zu verwenden, solange sie noch nicht völlig unbrauchbar waren. Das war an der gesamten Ausstattung des Gebäudes erkennbar. Das Büro bestand aus einem kleinen Sekretariat mit Kästen, Regalen und einem Schreibtisch, alles in dunklem Nusston, wie er in den achtziger Jahren modern gewesen war. Die Sekretärin, die über diesen Bereich herrschte, passte erstaunlich gut in dieses Interieur, was zum Teil an ihrer Kleidung, zum Teil aber auch an ihrem heute kaum mehr anzutreffenden herrschaftlich herablassenden Ton lag. Offenbar zähle auch sie zu den Inventarstücken, die bei Übernahme des Gebäudes durch Humano Serve nicht völlig unbrauchbar gewesen waren.
Außer ihnen wollte augenscheinlich niemand etwas vom Geschäftsführer. Dennoch wurden sie ersucht, sich fünf Minuten zu setzen, um nach zwei Minuten ein Zimmer weiter gebeten zu werden.
Mit einem „Guten Morgen, meine Herren“ empfing sie Schirmer, ein untersetzter Mann, der die fünfzig schon überschritten hatte und einen Vollbart trug, dem man ansah, dass er jeden Tag mindestens fünfzehn Minuten Pflege vor dem Badezimmerspiegel erforderte, „dumme Sache, was da gestern passiert ist.“
„Ja, das kann man sagen“, bestätigte Margreiter, „wie ich schon am Telefon gesagt habe, besteht der Verdacht, Insassen Ihres Hauses könnten mit der Tat in Verbindung stehen.“
„Ich hoffe, sie haben Unrecht“, bemerkte der Lagerleiter. Der sorgenvolle Blick, den er auflegte, passte perfekt zum bekümmerten Ton.
‚Entweder war er Schauspieler oder er ist in der Politik aktiv’, dachte Viktor unwillkürlich, während er mit möglichst ausdruckslosem Gesicht neben Margreiter an der gegenüber liegenden Seite des Schreibtisches saß.
Читать дальше