„Alles klar“, bemerkte Margreiter ohne weiteren Kommentar.
Während der Chefinspektor wegen des Haftbefehls zum Gericht fuhr, spukte ständig Margreiters Bericht in seinem Kopf herum. Etwas an der Sache gefiel ihm nicht. Es war alles zu einfach und zu glatt. Auf die Frage etwa, warum zwei kaltblütige Mörder eines kleinen Mädchens, die wissen mussten, dass ihr Leben nach dieser Tat wohl keinen Pfifferling mehr wert war, ohne größeren Widerstand klein zu kriegen und zu überführen waren, hatte er für sich keine Antwort, wenngleich das alles für Margreiter kein Problem zu sein schien. Auf der anderen Seite war die Ausrede, die Ermordete sei schon tot gewesen, die klassische Schutzbehauptung für den Fall, dass sich die Anwesenheit am Tatort nicht mehr leugnen ließ. Es gab eben beide Varianten, entweder sie waren die Täter oder nicht. Was ihm aber Sorgen machte, war die Frage, ob er bei diesen Verdächtigen genügend Spielraum hatte, um alle Möglichkeiten ausreichend auszuloten oder ob die politischen Wogen ins Polizeirevier überschwappen und eine objektive Wahrheitsfindung aussichtslos machen würden. Denn politisch verwertbar waren zwei Mörder aus dem Lager in jedem Fall, besonders wenn bekannt würde, dass sie seit ihrer Kindheit nichts anderes getan hatten, als zu töten. Weininger klang schon Bürgermeister Rettenbachers Stimme im Ohr, wenn er nur daran dachte. Aber ihm war auch klar, dass er, solange es keine anderen Verdächtigen gab, gar nichts anderes tun konnte, als die beiden zu verhaften, worauf sich die Ermittlungen zwangsläufig gegen sie richten würden. Und er wusste, es gab genug Staatsanwälte, denen die Beweislage, so wie sie sich darstellte, mehr als reichen würde, um die Ermittlungsverfahren so schnell wie möglich abzuschließen und die Anklage folgen zu lassen. Der Weg, der den beiden Schwarzen bevorstand, war, wenn nichts Außergewöhnliches passieren würde, vorgezeichnet.
‚Das Einfachste wäre, sie hätten es getan‘, dachte er irgendwann, als ihm das Überlegen zu mühselig wurde, ‚vielleicht hat Margreiter ja recht, und wir haben bald zwei Geständnisse.‘
Eine knappe Stunde später betrat der Chefinspektor das Lager. Margreiter und Viktor warteten mit den beiden Verdächtigen bereits auf ihn. Neben ihnen stand ein uniformierter Beamter, den sie zu ihrer Unterstützung angefordert hatten. Weininger nahm die offizielle Verhaftung der Afrikaner vor und belehrte sie über ihre Rechte. Damit sie ihn auch verstehen konnten, bediente er sich der Englischkenntnisse Viktors, der diesmal als Simultanübersetzer in Erscheinung trat. An den Gesichtern der beiden Sechzehnjährigen, denen Margreiter gleichzeitig Handschellen anlegte, konnte Weininger die Korrektheit von Viktors Übersetzungen ablesen. Schließlich klärten sie mit einem Bediensteten der Lagerbetriebsgesellschaft – Schirmer war offenbar nicht im Haus – die Formalitäten wegen der Überstellung der beiden Insassen in Polizeihaft. Zwanzig Minuten später waren sie auf dem Weg zum Polizeikommando – Weininger nahm seinen eigenen Wagen, die anderen fuhren mit den Verdächtigen im Streifenwagen – und betraten kurz darauf die verlassene Stube der Kriminalabteilung von Fürstenberg.
„Also, wo stehen wir jetzt wirklich?“, fragte Weininger, nachdem er die Tür des Vernehmungszimmers geschlossen hatte. Es war ein kleiner, schmuckloser, aber sehr hell erleuchteter Raum. In der Mitte stand ein noch ziemlich neuer Tisch, der nicht zum Rest des Zimmers mit den mehr grauen als weißen Wänden und dem abgetretenen Linolfußboden passte.
„Im Grunde hat sich seit unserem Telefonat nicht mehr viel geändert“, berichtete Margreiter, „der eine gibt zu, über die Leiche gestolpert zu sein, nicht aber, den Mord begangen zu haben. Der andere hat dicht gemacht und sagt gar nichts mehr. Die Schuhe haben wir ihnen übrigens abgenommen. Die, die sie anhaben, sind aus dem Fundus des Lagers.“
„Na gut, und was hast du für einen Eindruck?“, fragte der Chefinspektor. „Glaubst du, sie waren es?“
„So, wie die Dinge liegen, sieht’s danach aus. Ich meine, wer soll’s sonst gewesen sein?“ Margreiter schien kaum Zweifel an der Lage der Dinge zu haben.
„Und was denkst du, Viktor“, wandte sich Weininger an den Angesprochenen, der, etwas verwundert über die Ehre, seiner Meinung in dieser Frage Ausdruck verleihen zu dürfen, den Kopf Richtung Chefinspektor hob.
„Ich weiß nicht recht“, erwiderte er, „ich kann diesen Optimismus nicht ganz teilen.“ Viktor versuchte, sich durch den zwiespältigen Blick, mit dem Margreiter ihn nun ansah, nicht beirren zu lassen. „Es ist möglich, sicher, aber ich kann nicht wirklich glauben, dass sie es waren. Sie haben kein Motiv, und es wird auch nicht leicht sein, eines zu finden. Was soll zwei Afrikaner, die hier Asyl beantragt haben, weil sie den Krieg und das Töten in ihrem Land nicht mehr aushalten, dazu bringen, ohne jeden Grund ein kleines Mädchen umzubringen? Für mich ist die andere Version, nämlich dass das Mädchen schon tot war, logischer.“
Margreiter sah aus, als ob er etwas sagen wollte, ließ es aber dann, während Weininger kurz nachdachte.
„Na gut, sehen wir zuerst den an, der noch leugnet“, sagte er schließlich. „Wie heißt er?“
„Rasul Nkoma“, antwortete Viktor.
„Du machst wieder den Dolmetsch“, sagte der Chefinspektor sicherheitshalber zu Viktor, um mögliche Zweifel, die daran bestehen könnten, von vornherein auszuschließen.“
Er machte Margreiter ein Zeichen, den Verdächtigen, der mit seinem Freund und dem Uniformierten vor dem Vernehmungsraum wartete, hereinzubringen.
Mit undurchdringlichem Blick schlurfte Rasul ins Zimmer und setzte sich auf den Sessel, den Margreiter ihm zuwies.
„Wie heißen Sie?“, fragte er auf väterliche Art, worauf der Afrikaner seinen Namen sagte, der – trotz einer gewissen Ähnlichkeit – bei ihm anders klang als bei Viktor.
„Sie wissen, warum Sie hier sind?“, fragte Weininger ihn. „In unserer Stadt ist ein schweres Verbrechen passiert, ein Mädchen wurde getötet und wir haben Grund zur Annahme, dass Sie in diese Sache verwickelt sind und uns etwas dazu sagen können.“ Er wollte mit offenen Karten spielen, da er wusste, dass die bisherigen Verhörmethoden bei seinem Gegenüber keine Wirkung gezeigt hatten.
„Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass wir Sie nicht zwingen können, eine Aussage zu machen“, fuhr er fort, „alles, was Sie uns sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden, aber auch Ihr Schweigen kann im Rahmen der freien Beweiswürdigung als Indiz Ihrer Schuld ausgelegt werden. Deshalb stelle ich noch einmal die Frage, die Ihnen bereits mehrmals gestellt wurde. Können Sie uns irgendetwas im Zusammenhang mit dem Mord an dem Mädchen mitteilen?“
Rasul sagte kein Wort.
„Ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Bei uns gibt es keine Todesstrafe, egal um welches Verbrechen es sich handelt, und es gilt jeder so lange als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist. Ein solcher Beweis der Schuld ist aber erst nach einem sehr umfangreichen Verfahren möglich. Sie brauchen also nicht zu fürchten, wegen eines Verbrechens bestraft zu werden, das Sie nicht begangen haben.“
Der Chefinspektor glaubte zwar selbst nicht so richtig, was er da sagte, aber es war etwas außerordentlich Vertrauen Erweckendes in seiner Stimme. Auch wenn Rasul erst die Übersetzung von Viktor verstand, verfehlten seine Worte nicht ganz ihre Wirkung.
„Sie werden mich zurückschicken und dort wird man mich umbringen, egal, ob ich etwas getan habe oder nicht. Das wird die bei mir zu Hause gar nicht interessieren“, erwiderte Rasul plötzlich.
„Bei einem Kapitalverbrechen wie diesem kann ich Sie beruhigen. Wenn eine solche Tat in Österreich an einem Österreicher verübt wird, dann werden Sie auch hier abgeurteilt.“ Auf diese Art hatte Weininger bisher noch nie argumentieren müssen. Als Privileg wurde es normalerweise nicht angesehen, in Österreich einen Mordprozess am Hals zu haben.
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