„Ich verstehe dieses Papier nicht. Wie soll ich wissen, wo wir da gegangen sind? Ich kann mich auch gar nicht mehr so genau erinnern“, sagte Rasul, ohne sich überhaupt mit dem Plan auseinander zu setzen. „Wir gehen oft in die Stadt und nehmen jedes Mal irgendeinen Weg. Ich habe keine Ahnung, wie wir an dem Tag, den Sie genannt haben, gegangen sind?“
„Aber Sie haben doch sofort gewusst, dass Sie in der Stadt waren“, bemerkte jetzt wieder Viktor. „wieso fällt es Ihnen plötzlich so schwer, sich an den Weg zu erinnern?“
Man konnte zusehen, wie Rasul mit jedem Moment nervöser wurde und unruhig auf seinem Sessel hin- und her rutschte. Er sagte nichts mehr. Margreiter und Viktor warteten etwa eine Minute, ohne die Miene zu verzeihen. Schließlich stand Margreiter auf, öffnete die Tür und wandte sich leise an den Aufseher.
„Wir können doch davon ausgehen, dass die Personen, die Sie zu uns bringen, keine Messer oder sonstigen Waffen bei sich tragen.“
„Ja, ja, selbstverständlich“, erwiderte das Wachorgan, „wir haben sie nach Verlassen des Speisesaals durchsucht, die sind garantiert sauber.“
„Gut“, erwiderte Margreiter, „wir müssen mit unseren beiden Freunden hier eine etwas genauere Befragung durchführen, bei der wir sie wahrscheinlich mehrmals abwechselnd vernehmen werden. Ich würde ihnen sicherheitshalber raten, einen Kollegen beizuziehen, man weiß nicht, was ihnen einfallen kann, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen.“
„In Ordnung“, sagte der Aufseher dienstbeflissen und rief einen Kollegen am Handy an, der nach ein paar Minuten erschien.
Sofort als er kam, wurde Obike hereingeholt, während Rasul draußen zu warten hatte. Man sah Margreiter an, dass er Blut geleckt hatte, denn er übernahm jetzt das Fragen, während er Viktor anwies, so genau wie möglich zu protokollieren.
„Ihr Freund hat uns auf dem Plan gezeigt, welche Straße Sie in die Stadt und welchen Weg Sie wieder zurück zum Lager genommen haben. Damit wir die Sache abhaken können, ersuche ich Sie, uns ebenfalls zu beschreiben, wie Sie gegangen sind.“
Margreiter stand auf, ging auf die andere Seite des Tisches und hielt ihm den Plan hin, während er neben ihm stand und jede seiner Bewegungen beobachtete. Obike trat sichtbar der Schweiß auf die Stirn. Eine halbe Minute lang sah er verzweifelt auf das Papier.
„Ich kann nicht sagen, wie wir gegangen sind, ich kenne mich auf dieser Karte nicht aus und ich habe es auch vergessen.“
„Könnten Sie es rekonstruieren, wenn wir mit Ihnen den Weg gehen?“, fragte Margreiter.
„Nein, ich habe es vergessen“, entgegnete Obike.
Viktor sah seinen Gesichtsausdruck an, als er verzweifelt versuchte, der taktischen Übermacht der beiden Erhebungsbeamten zu trotzen. Es erkannte Angst darin, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. Dennoch sagte sein Gefühl ihm etwas anderes als das, was die offensichtlichen Fakten nahe zu legen schienen. Sie hatten hier zwei ausgebildete Mörder vor sich, die nicht willens waren, einfache Fragen zu beantworten, weil sie fürchteten, sich in Widersprüche zu verwickeln. Für eine Festnahme würde das eigentlich schon ausreichen und auf dem Revier würden sie sie dann ohne jede Frage weichkochen. Aber Viktor konnte es nicht glauben.
Plötzlich, ohne Vorwarnung, hielt Margreiter dem jungen Afrikaner ein Bild von Jacqueline Zeiringer hin.
„Haben Sie dieses Mädchen schon einmal gesehen?“, fragte er, so streng er konnte.
Obike zuckte so auffällig zusammen, dass er nicht ernsthaft glauben konnte, den Polizisten wäre dies entgangen.
„Nein“, sagte er unverzüglich, ohne darüber auch nur nachgedacht zu haben.
„Ihre Reaktion hat aber etwas anderes gesagt“, bemerkte Margreiter.
Schweigen von Obike.
Margreiter öffnete wieder die Tür und führte einen Wechsel bei den Befragten durch. Er zeigte auch Rasul das Bild, der angab, keine Ahnung zu haben, wer das sei. Er habe sie noch nie gesehen. Anschließend ließ er ihn wieder eine halbe Minute sitzen.
„Wissen Sie eigentlich, warum Sie beide hier sitzen?“, fragte er schließlich.
„Sie haben gesagt, dass es um ein Verbrechen geht, mehr weiß ich nicht“, antwortete Rasul mit undurchdringlicher Miene.
„Und haben Sie keine Idee, warum wir gerade Sie hier so lange befragen?“
„Nein!“
Es war offensichtlich, dass aus Rasul nur schwer etwas herauszubekommen sein würde. Margreiter, der das erkannt hatte, stellte ihm daraufhin plötzlich Fragen, die mit dem Verbrechen nichts zu tun hatten. Von wo genau er kam, was er in seiner Heimat gemacht habe. Schon vom Verlauf zu Beginn der Vernehmung hätte er eigentlich wissen müssen, dass Rasul in diesen Dingen nicht besonders redselig war. Viktor, der protokollierte, wusste zuerst mit Margreiters Vorgangsweise nichts anzufangen, bis er verstand. Es ging nicht um Rasul, aus dem war ohnehin nichts herauszukriegen. Margreiter wollte damit Obike weich kochen, der draußen wartete, und für den sich die Tür jederzeit wieder öffnen konnte. Je länger aber Rasul drinnen blieb, umso mehr musste er erzählt haben.
Nicole kam Viertel nach drei auf den Polizeiposten. Nach den Zeiringers war sie für ein paar Besorgungen ins Einkaufszentrum in der Nähe des Bahnhofs gegangen und hatte sich dort auch gleich einen Teller Spaghetti einverleibt. Als sie jetzt die Kriminalabteilung betrat, hörte sie den Chefinspektor, dessen Bürotür offen stand, etwas in sein hoffnungslos veraltetes Aufnahmegerät diktieren. Diesen Luxus erlaubte er sich bei etwas längeren Aktenvermerken, die seine Maschinenschreibkünste überforderten. Meistens war es Nicole, die die besprochene Kassette dann auf ihrem Schreibtisch fand. Ein paar Minuten lang murmelte er ins Mikrofon der fast schon anachronistischen Apparatur und kam dann, eine Tasse Kaffee in der Hand, heraus.
„Na, was rausgefunden?“, fragte er, obwohl ihm selbst klar war, dass außer etwas Hintergrundinformation bei den Eltern der Toten wohl nicht viel zu erfahren gewesen war.
„Ich weiß zumindest, wie die Onkels und Tanten heißen und in welchen Kreisen die Eltern verkehren“, erwiderte Nicole, „aber von einer Spur ist weit und breit nichts zu sehen. Wäre wohl auch ein bisschen viel verlangt. Wie war’s in der Schule?“
“Nicht viel anders.“ Weininger nahm einen Schluck Kaffee. „Ich hab’ mit der Chefin und zwei Lehrerinnen gesprochen. Unterm Strich ist auch da nicht viel rausgekommen.“
Er hielt kurz inne, um einen Beginn für das Folgende zu finden.
„Kennst du die Direktorin dort, sie heißt Küster?“, fragte er schließlich.
„Nicht dass ich wüsste“, antwortete Nicole.
„Die ist sehenswert. Geschminkt wie ein Zirkusclown und trägt Schuhe mit Zehn-Zentimeter-Absätzen. Dabei kann sie nicht weit von den fünfzig entfernt sein.“
„He, vielleicht wär’ das ja was für dich?“, konnte Nicole sich nicht verkneifen zu sagen.
„Ja, ja, schon gut, lasst euch mal was Neues einfallen“, erwiderte Weininger und machte ein saures Gesicht dazu, wie immer bei solchen Bemerkungen.
„War nur ein Witz“, sagte Nicole schnell. Mittlerweile kannte sie die Eigenheiten des Chefinspektors in diesen Belangen.
„Ja, ja, schon gut“, wiederholte er, „die Küster jedenfalls war richtig eingeschnappt darüber, dass ich sie bei den Vernehmungen der anderen nicht dabei haben wollte, hat mich ganz bös’ angeschaut. Dabei war sie selbst zugeknöpft bis obenhin.“
Es entstand eine kurze Pause.
„Wer mir sehr gut gefallen hat, ist die Klassenlehrerin“, bemerkte Weininger schließlich.
„Aha“, sagte Nicole mit möglichst unbeteiligtem Gesichtsausdruck, und gab gerade damit der Tatsache, dass sie dazu keine Bemerkung machte, eine eigene Bedeutung.
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