„Was sie gesagt hat, hat sehr natürlich und glaubhaft geklungen“, sprach der Chefinspektor demonstrativ unbeirrt weiter, „aber auch sie hat keine verwertbaren Hinweise geben können. Jacqueline Zeiringer war ein intelligentes, aber auch sehr lebendiges Kind. Das wäre etwa die Zusammenfassung ihrer Aussage. Die Ermordete scheint also nicht die bravste Schülerin gewesen zu sein. Aber zu einem Mordmotiv werden wir damit wohl nicht kommen.“
„Nein, das wäre ja noch schöner“, bestätige Nicole.
„Wenn wir über das Umfeld des Opfers besser informiert sind, können die Lehrer vielleicht hilfreich sein. Die bekommen ja doch einiges mit.“ Weiningers Worte klangen mehr nach einer vagen Hoffnung als nach einer Feststellung. Nicole nickte nur.
„Hast du schon was von Margreiter und Viktor gehört?“, fragte sie nach einer Weile.
„Noch nicht“, antwortete er, „aber sie haben im Lager sicher die größten Chancen, einen Schritt weiter zu kommen.“
Obike saß vor der Tür, neben sich die vierschrötigen Wärter, von denen einer einen Schäferhund an der Leine hielt. Die Aufseher ließen ihn nicht aus den Augen und behandelten ihn wie einen, dem alles zuzutrauen ist. Margreiters Hinweis auf die Gefährlichkeit des jungen Schwarzen hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Draußen begann das Tageslicht, langsam einer unmerklich voranschreitenden milchig-trüben Dämmerung zu weichen. Vom schon etwas düsteren Gang aus sah man über die Oberlichten ins hell erleuchtete Zimmer.
‚Was machen die da drin so lange mit Rasul?‘, dachte sich Obike, ‚wir haben doch vereinbart, so wenig wie möglich zu sagen.‘
Ihm selbst hatte ihr Plan von Anfang an nicht gefallen. Der krampfhafte Versuch, zu verheimlichen, wie sie über die Leiche gestolpert waren, konnte doch nicht gutgehen. Sie hätten gleich zur Polizei gehen sollen, möglicherweise hätte man ihnen geglaubt. Er überlegte auch, ob er nicht jetzt einfach die Wahrheit sagen sollte, fühlte sich aber Rasul verpflichtet, der seinen Teil der Abmachung einhielt, dessen war er sich sicher. Seit sie geholt worden waren, hatte ihn ein mulmiges Gefühl in der Magengrube nicht mehr verlassen. Es war weniger die Angst, für etwas zu büßen, das sie nicht getan hatten. Dafür hatte er schon zu viel erlebt. Ihn bedrückte eher die Aussicht, dass jetzt auch sein künftiges Leben, das er als Hoffnung und Chance gesehen hatte, durch seine eigene Schuld nur ein Traum bleiben würde. Durch seinen wirren Kopf gingen aber noch andere Gedanken. Vielleicht war das, was ihnen hier bevorstand, die Strafe für die vielen in ihrem bisherigen Leben verübten Morde. Von ihrem ehemaligen Anführer, einem gewissenlosen Kerl, der Widerspruch nicht zugelassen hatte, waren sie dazu gezwungen worden. Sich ihm zu widersetzen hätte bedeutet, sein Leben für einen sinnlosen Akt des Mutes wegzuwerfen. Die meisten damaligen Mitkämpfer waren noch keine fünfzehn Jahre alt gewesen. Nur bei einer kleinen Gruppe Älterer, die sich um den Anführer geschart hatten, war es wohl Überzeugung gewesen, die sie dazu gebracht hatte, diesen Kampf zu führen. Aber welche Überzeugung blieb nach jahrelangen Kämpfen, bei denen keine längerfristigen Erfolge zu erzielen waren, noch übrig? Wohl nur jene, dass ein Dasein, das sein Selbstwertgefühl von nichts anderem als dem Töten bezieht und das seinen Sexualtrieb nur durch Vergewaltigungen befriedigt, dennoch erträglich sein kann. Nach genügend langer Zeit würde es wahrscheinlich das einzige Leben werden, zu dem man noch fähig war. Rasul war diese Lebensweise immer leichter gefallen als Obike. Er hatte sich mit all dem nie abfinden können. Auf der anderen Seite hätte er selbst nicht den Mut aufgebracht, diesem Zwang zu entfliehen. Davon hatte Rasul ihn erst überzeugen müssen, und bis zum Schluss hatten ihm die Knie gezittert, genauso wie er sie jetzt kaum ruhig halten konnte, da er vor dem Zimmer wartete, in dem sein Freund, mit dem zusammen er das alles erlebt hatte, in die Mangel genommen wurde. Ihm schien, als würde die Zeit nicht weitergehen, als wäre Rasul schon eine Ewigkeit drinnen. Vielleicht war er inzwischen schon zusammengebrochen und hatte gesagt, wie es wirklich gewesen war, was sonst sollten sie so lange mit ihm machen? Immer wieder drehten sich Obikes Gedanken im Kreis und er konnte ihnen nicht entfliehen, selbst wenn er versuchte, sich zurück zu lehnen und an gar nichts zu denken.
Plötzlich ging die Tür auf und die beiden Männer, die sich als Polizisten deklariert hatten, wurden sichtbar. Einer führte Rasul heraus. Obike versuchte, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Er wollte erfahren, was Rasul gesagt hatte, obwohl er wusste, dass dies unmöglich war. Aber ihm gelang nicht einmal, sein Gesicht zu erkennen, so schnell wurde er von den Aufsehern in den Raum geschoben.
„Hallo!“ Derjenige der beiden, der es irgendwann übernommen hatte zu fragen, empfing ihn mit einem Lächeln, das ihn noch mehr verunsicherte und wies ihn an, sich auf den ihm schon bekannten Sessel zu setzen.
Viertel vor sechs am Abend erklang in Chefinspektor Weiningers Auto wieder einmal die g-Moll-Symphonie von Mozart. Je länger er diese Melodie eingestellt hatte, umso mehr ging sie ihm auf die Nerven. Er griff in die Seitentasche seiner Jacke, um sein Handy heraus zu holen und drückte auf die Rückruftaste, da er nicht schnell genug gewesen war. Am anderen Ende der Verbindung meldete sich Margreiter, dessen Stimme etwas Triumphierendes an sich hatte.
„Wir haben die beiden Afrikaner. Es sind zwei Sechzehnjährige, die Österreich vor etwas mehr als vier Wochen betreten haben. Der eine hat zugegeben, dass sie am Tatort gewesen sind, bestreitet aber jede Beteiligung am Mord, zumindest derzeit noch. Der andere ist ein härterer Knochen, aus dem bekommen wir nicht so leicht etwas raus. Aber wir haben genug, um sie wegen dringenden Tatverdachts und Verdunkelungsgefahr festnehmen zu können.“
„Wie habt ihr das so schnell geschafft?“, fragte Weininger, den diese Nachricht doch einigermaßen überraschte.
„Ein wenig Erfahrung hab’ ich mittlerweile angesammelt“, antwortete Margreiter mit deutlich hörbarem Stolz, der einen Anflug von Überheblichkeit enthielt. „Allerdings muss ich zugeben, dass es nicht allzu schwer war“, fuhr er etwas nüchterner fort, „sie hatten sich zwar einiges zurechtgelegt, aber schon bei unseren ersten Fragen war die mangelnde Übereinstimmung ihrer Antworten zu merken. Sie haben angegeben, dass sie zur fraglichen Zeit im Stadtzentrum gewesen waren, beim genauen Weg waren sie aber plötzlich unsicher und bei getrennter Befragung wollte sich keiner mehr festlegen. Als sie gemerkt haben, dass sie sich mit jedem weiteren Wort vielleicht um Kopf und Kragen reden konnten, haben sie plötzlich immer weniger gesagt. In getrennten Befragungen haben wir sie aber schnell ausgetrickst und einen von ihnen weich bekommen. Allerdings hat er den Mord nicht zugegeben. Nach seiner Version sind sie über die Leiche gestolpert und haben sich danach unbemerkt fortgeschlichen, ohne jemanden zu informieren. Aber gib mir eine Nacht bei uns im Polizeikommando und ich wette, wir haben zwei Geständnisse.“
„Gut gemacht“, erwiderte Chefinspektor Weininger, obwohl ihm, so wie Margreiter es erzählt hatte, alles fast ein wenig zu schnell gegangen war, „wenn ich richtig verstehe, wollt ihr die beiden verhaften und zum Posten bringen.“
„Du bist doch einverstanden damit?“, fragte Margreiter etwas weniger selbstbewusst als zuvor.
„Natürlich, so wie du es geschildert hast, haben wir keine andere Wahl“, antwortete Weininger, „allein wegen der Verdunkelungsgefahr müssen wir sie verhaften, ich kümmere mich gleich um den Haftbefehl und komme dann zu euch. Ach ja, etwas noch, Moser vom Erkennungsdienst hat mich angerufen, sie haben Abdrücke der Fußspuren gemacht, die recht brauchbar geworden sind. Wir bekommen sie morgen. Am besten solltest du den beiden gleich ihre Schuhe abnehmen. Ein zweites Paar werden sie zwar nicht besitzen, aber im Lager wird wohl irgendwas aufzutreiben sein, was sie anziehen können. Also dann, bis in etwa einer Stunde.“
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