Simone Lilly - Gegen die Zeit

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Sven findet einen Brief. Zunächst scheint es ein ganz Gewöhnlicher zu sein. Schnell merkt er aber, dass es sich bei ihm um wesentlich mehr handelt. Um seine neue Erfindung, eine Zeitmaschine zu testen, beschließt er in die Vergangenheit zu reisen und das Leben des Verfassers von grundauf zu ändern.
Bald aber scheint sein Plan kläglich zu scheitern, da er nicht nur auf dem damals größten Schiff der Welt landet, dessen Untergang verhindert, sondern als er auch merkt, wie verstrickt die Bande der Zeit doch sein können. . .

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September 1895

Noch immer konnte Sven es nicht glauben.

Der Anblick, der sich ihm bot, war einfach überwältigend. Das gewaltige Schiff, das er schon von Bildern und aus Erzählungen kannte, hätte er niemals derart schön erwartet.

Langsam schritt er stolz, aber dennoch vorsichtig um es herum. Da, auf der linken Seite zierte eine goldene, verschnörkelte Schrift das schwere Eisen des Schiffes.

RMS Titanic.

Ehrfürchtig wich er zurück und sog diesen Moment in sich ein, wie die Luft zum atmen.

„Titanic“, was für ein mächtiger Name. Nachdenklich streckte Sven seine Hand aus, um einen kleinen Teil davon zu berühren. Das Metall war kalt und der Mythos, der von ihm ausging, durchzuckte seine Hand wie ein elektrischer Schlag, schnell nahm er sie wieder an sich und rieb sie gedankenverloren warm.

Bald würde es in See stechen können. Bald. Nur noch wenige Wochen.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er, einen Arbeiter, der angestrengt und verschwitzt damit beschäftigt war, eine Metallplatte fest zu schweißen. Dadurch musste er lachen. Zu sehen, wie ein einzelner Mann, so klein wie eine Ameise, eine einzige Platte an einen solchen Kollos wie die Titanic es war, anschweißte, nahm dem Augenblick jegliche Magie.

Lächelnd wandte er dem Arbeiter den Rücken zu und ging einige Schritte auf und ab.

Wenn er das Schiff, das so friedlich und unschuldig vor ihm stand, und die Männer, die ihr gesamtes Herzblut in die Arbeit steckten, sah, bekam Sven einen dicken Kloß im Hals. Was für ein Jammer. Betroffen senkte er den Kopf und wischte sich kurz über sein linkes Auge. Was für ein Jammer war es, zu wissen was mit ihm geschehen würde und nichts dagegen tun zu können. Mit schlechtem Gewissen drehte er sich noch einmal um, seine Augen wanderten umher, huschten über die Kamine, über die Reling und über den Schriftzug. Für einen Moment fixierte er die Stelle, an der der Eisberg mit dem Schiffsbauch kollidieren würde.

Da der Lärm um ihn herum zu laut wurde, entschloss er sich, aus der Halle, hinaus an die frische Nachmittagsluft zu gehen.

Kaum dort angekommen, schlenderte er zu einem bekannten Café in der Nähe und bestellte sich dort einen Kakao. Spaziergänger kreuzten seinen Weg und es machte ihm Spaß, die verschieden gekleideten Leute zu beobachten. Genüsslich schlürfend blinzelte er in die tief stehende Sonne. Der Hafen war prächtig. Viele kleine Boote lagen vor Anker und schaukelten im Wasser, obwohl es Mittag war, wurde diese von den orangenen Sonnenstrahlen durchflutet.

Ein kurzer Blick auf die Uhr, und er seufzte. Er musste langsam zurück zu seiner Arbeit. Die Mittagspause würde nicht ewig dauern. Er hatte seinen Auftrag. Diesen wollte er perfekt ausführen. Es war sein Erster, doch war es der Wichtigste. Das wusste er. Alarmiert stand er auf und bezahlte, indem er einfach einen oft gefalteten Schein auf den Tisch klatschte. Dann ging er eine enge Seitengasse entlang, zurück zu seinem Arbeitsplatz.

Nathan hatte keine Lust, aufs Dach zu klettern und die Blätter, die darauf lagen, hinunter zu kehren, so wie es ihm sein Vater aufgetragen hatte. Er fand es sinnlos. Schließlich war er schon 12 Jahre alt und hatte weitaus bessere Dinge zu tun. Auf seine Schwester konnte er nicht zählen, das wusste er. Sie war 15 und versuchte sich wann immer es ging, vor der Hausarbeit zu drücken. Sie war nur nett zu ihm, wenn er ihr einen Gefallen tun musste, und selbst dann war es nicht immer so. Mit unverschämt viel Erfolg versuchte sie jeglicher Arbeit aus dem Weg zu gehen. Außerdem wohnten sie nicht gerade in einem kleinen Haus, sondern beinahe in einer Villa. Das Dach war deshalb schwindelnd hoch und vor allem groß.

Zähneknirschend schleifte er eine Sprossenleiter und einen Besen über den Rasen des Vorgartens, hinüber bis er sie keuchend fallen ließ. Weil er diese Arbeit erledigt hatte, fand er, stand es ihm zu, sich einen Moment auszuruhen. Faul blinzelte er in die grelle Sonne.

Sein Vater verstand ihn nicht. Wütend und mit bebenden Lippen war er zu ihm in den Garten getreten.

„Nathan! Was habe ich dir gesagt! Wenn ich wieder komme, bist du endlich fertig! Verstanden?!“

Die Ansage war kurz. Kurz doch aussagekräftig. Ermüdet stand Nathan auf, fuhr sich durch seine roten Haare und machte sich auf den Weg, um die Leiter aufzustellen, vorsichtig lehnte er sie an die Wand.

Irgendwie musste er sich doch aus der Situation schleichen können, aber wie?

Lustlos blinzelte er gegen die grellen Strahlen, als er die Sprossenleiter vorsichtig an das Dach lehnte, hielt auf der Hauptstraße vor ihrem Haus unerwartet ein kleines, aber teures Auto. Neugierig hielt Nathan inne. Der Mann, ein freundlicher, aber hagerer Junge, mit dunkelblonden Haaren, das ihm eng an den Kopf gekämmt worden war, stieg aus und kam lächelnd auf ihn zu.

„Hallo, Junge.“

Verlegen nickte Nathan ihm entgegen und lies von der Leiter ab. „Hallo.“

„Da hast du ja noch viel Arbeit vor dir, nicht wahr?“, sagte er freundlich, setzte seine Brille ab und musterte skeptisch die Leiter.

Der Mann fing an, ihm zu gefallen. „Ja, schon.“

Hinter ihnen huschte eine schwarze Katze an ihnen vorüber. Doch der Mann drehte sich nicht zu ihr um. „Möchtest du nicht lieber mit mir eine Runde in meinem Wagen fahren?“

Das Angebot klang verlockend. Noch nie hatte er in einem Auto gesessen. Sie waren selten. Der Mann musste äußerst wohlhabend sein. Nathans Augen weiteten sich. Wie musste es wohl sein, in einem Auto zu sitzen? Zu fahren? Tausend Fragen strömten ihm durch den Kopf und er war nahe dran, alles stehen und liegen zu lassen und sein Angebot anzunehmen und doch schüttelte er den Kopf. „Nein, danke. Vielleicht später. Ich muss das jetzt machen.“

„Schade“, schnell gewann der Mann wieder an Haltung, man konnte aber sehen, wie enttäuscht er war. „Dann sehen wir uns später?“

„Ja.“

Lange sah er dem kleinen Jungen hinterher. Wie dieser ungelenk die Leiter erklomm und ebenso tollpatschig jeden Laubhaufen packte und ihn hinunter auf die Erde warf. Schließlich setzte er sich seine Sonnenbrille erneut auf. „Schade, wirklich schade.“

Etwas geknickt lenkte Sven seinen Blick auf das bronzene Namensschild, das an der Hauswand angebracht war. Emrick. Nathan Emrick.

Mit hochgezogenen Augenbrauen kramte er aus seiner Tasche einen mitgenommenen Brief hervor und überprüfte die Anschrift, die unsauber darauf geschrieben stand. Ja, Nathan Emrick, das war er. Rasch steckte er ihn zurück und setzte sich in seinen Wagen. Dort, verharrte er wenige Minuten, indem er einfach auf ihren Vorgarten starrte.

Was nun? Er hatte seine Mission, aber, wie sollte er vorgehen? Die Haustür wurde aufgeschlagen und ein wütend dreinblickender Mann kam hinaus in die Sonne gestürmt. Nathan war so erschrocken, dass er beinahe vom Dach gefallen wäre. Es war bestimmt sein Vater. Laute Rufe durchzogen die laue Sommerluft, während Sven sich angespannt zurück in seinen, mit Leder überzogenen Sitz lehnte.

Ein kleines Mädchen, ungefähr in Nathans Alter, kam galant die breite Hauptstraße hinunter. Geradewegs auf das Haus der Emricks zu. Es hatte strohblondes Haar und trug ein leichtes, weißes Kleid, das im Wind um ihren Körper wehte. Ohne Zweifel war sie äußerst hübsch. Svens Lippen formten lautlos Worte, seine Augen folgten ihr zu selben Zeit, bis sie lächelnd, Vater und Sohn erreicht hatte. „Catherine Mejr.“ Leicht verträumt spitze er die Ohren.

„Hallo, Catherine“, wurde sie freundlich von Nathans Vater begrüßt. „Nathan kann sofort mit dir spielen gehen, er ist hier fertig.“

Gar nicht überrascht, merkte Sven, dass Nathan sofort etwas erwidern wollte und auch wie sein Vater ihn rasch zum Schweigen brachte. Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, hatte er mit ihm Mitleid, wie lustlos der Junge von der Leiter stieg, Catherine zaghaft begrüßte und dann von seinem Vater fort gescheucht wurde. Verärgert drehte er den Zündschlüssel und startete den Motor. Dieser war ungewohnt laut und der Wagen fuhr dementsprechend langsam. Für jemanden wie ihn, äußerst nerv tötend und gewöhnungsbedürftig.

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