Am nächsten Morgen wache ich mit dumpfem Kopf und müden Gliedern auf. Der Abend, so fröhlich er war, hat mich angestrengt. Mein ganzer Körper fühlt sich an, als ob eine große Kraftanstrengung ihn ausgelaugt hätte. Auch der Schlaf hat es nicht geschafft, ihn wieder aufzubauen. Daher lasse ich die Morgenstunden gemütlich angehen, Kräfte schonend. Kurz nach dem Mittagessen gehe ich ins Fitnessstudio. Nicht an die Geräte, für die ich nicht bezahle, weil sie mir zu anstrengend wären. Im Keller des Studios befindet sich ein kleines Schwimmbecken. Kaum kann man sich darin bewegen, wenn ein paar mehr Leute zugegen sind. Aber in den Stunden, in denen ich komme, ist es oft leer. Oder wir sind zu zweit und schwimmen die lächerlich kurzen Bahnen entlang, einander störend, weil das Becken nicht mehr hergibt. Heute achte ich darauf, dass es nicht zu lange wird, was es eigentlich nie wird. Heute möchte ich nur ein bisschen die Glieder erfrischen, die Müdigkeit vertreiben – das ging damals noch, irgendwann aber sollte der Zeitpunkt kommen, an dem auch das nicht mehr gehen würde, an dem mich jede Bewegung unendlich müde machen würde, auch die wohlgemeinte.
Es war eine seltsame Zeit. Mir war es lange gut gegangen. Ich hatte vieles mitmachen können. Ich hatte einen normalen Alltag: Studium, Halbtagsjob am Telefon, gut bezahlt, aber auch stressig. Wir waren chronisch unterbesetzt in dieser Zeit der ersten Wirtschaftsflaute, nachdem es Deutschland lange Jahre gut gegangen war. Es gab kaum Studentenjobs und ich war froh gewesen, diesen ergattert zu haben. Ich hatte mich gegen einige hundert Mitbewerber durchsetzen können. Wir absolvierten zuerst eine dreimonatige Schulungszeit, die gesellig und lehrreich war. Ich hatte mich wohl gefühlt in diesem kleinen Kreis unserer Neulingsgruppe und mochte die täglichen Lerninhalte. Doch irgendwann war die schöne und intime Zeit vorbei und wir wurden hinausgeschmissen, mitten in dieses Großraumbüro mit seinem Lärm, seinem Trubel und seiner Unruhe. Jetzt hatten wir nicht mehr freundliche und engagierte Schulungsleiter über uns, sondern misstrauische und bissige Teamleiter, mit barschem Umgangston und überzogenen Ansprüchen. Schnell merkte ich, dass diese Arbeit eine Herausforderung für meine Nerven sein würde. Sie erforderte permanente Aufmerksamkeit, viel Telefon, fast keine Pausen, manchmal über Stunden. Aber die gute Bezahlung lockte mich und die desolate wirtschaftliche Lage saß uns allen in den Knochen. Auch die schon investierte Zeit in die Schulung, wegen der das Semester mal wieder gelitten hatte, wollte ich nicht einfach so nutzlos werden lassen. Also blieb ich.
Meine Nerven hielten erstaunlich lange durch. Manchmal wundere ich mich noch heute darüber. Erst nach mehr als einem Jahr sollte mein Körper einknicken. Meine rechte Hand, die Schreibhand, weigerte sich weiter mitzumachen. Sie wollte nicht mehr. Nicht mehr so wie ich es wollte bzw. wie ich musste. Als ob sie von meinem inneren Widerstand gegen diese perspektivlose Arbeit geahnt hätte. Oder von meiner unterschwelligen Wut gegen die Sklaventreiber-Methoden, die sie bei uns anwenden konnten, weil wir jung waren und arbeiten wollten und weil die wirtschaftliche Lage sie in eine begünstigte Position gebracht hatte. Jetzt half mir mein eigener Arbeitswillen auch nicht mehr, denn meine rechte Hand streikte. Sie entzog sich meiner Kontrolle und wurde schwer und lahm. In mir staute sich Enttäuschung gegen diese Blockadehaltung auf. Oh nein, dachte ich. Bitte nicht. Nicht schon wieder der Ausfall eines so grundlegenden motorischen Vermögens, der doch niemals hätte sein dürfen. Hatte sie den nicht mitzumachen, diese meine Hand, so wie immer, so wie es ganz natürlich war? Unterlag sie nicht der Kontrolle meines Willens? Aber sie tanzte aus der Reihe. Ihre Bewegungen hackten. Sie hatten alle unmittelbare Leichtigkeit und fließende Selbstverständlichkeit verloren und waren plötzlich unendlich mühevoll auszuführen. Jedes Mal eine kleine Kraftanstrengung, die meine ganze Konzentration erforderte. Und je mehr ich diese Hand triezte, je mehr ich von ihr abverlangte sich meinem Willen unterzuordnen, desto stärker weigerte sie sich. Sie wurde immer schwerer, immer müder, unbeweglicher. Ich ärgerte mich über diese plötzliche körperliche Blockade, die sich so gleichgültig gegenüber meinem eigenen Willen vollzog, und ich war gleichzeitig furchtbar enttäuscht, weil ich mir eingestehen musste, dass sie wieder zugeschlagen hatte, nachdem sie eine ganze Zeit lang ruhig geblieben und in den Hintergrund getreten war. Ich hatte sie eigentlich schon abgeschrieben.
Das war wirklich schlimm, die Erkenntnis, dass sie immer noch da war, diese unheimliche Krankheit, die aus dem Hinterhalt zuschlug, unberechenbar, und mir mit einer schmerzlichen Selbstverständlichkeit die Kontrolle über meinen Körper nahm, einfach so. Von einer auf die andere Sekunde. Hierin lag ihr ganzer Schrecken. Zack, und jetzt kannst du halt deine Hand nicht mehr bewegen. Eben war doch noch alles in Ordnung gewesen. Ja eben, aber jetzt nicht mehr. Am Anfang zeigte sich das Symptom noch leicht, nur der Anflug einer kleinen Bewegungshemmung. Ich übersah sie geflissentlich. Weil ich die Hoffnung hatte, dass eigentlich gar nichts sei. Eine leichte Muskelschwäche vielleicht oder gar einfach nur eine psychosomatisch hervorgerufene Irritation? Unterlag meine Hand doch meinem Willen. War dem nicht so? Der Kopf schickt einen Befehl an den Körper. So schnell und präzise, dass wir davon gar nichts merken. Und schon hebt sich die Hand. Sie winkt. Wollten wir wirklich winken? Die Hand ist schlauer als wir. Sie kennt die Konventionen des Alltags genau. Die haben sich tief eingegraben in die Nervennetzwerke unseres Gehirns. Hier werden Millionen von Stromschlägen geschaltet. Unendlich viele Informationen, die mit Lichtgeschwindigkeit die Nervenbahnen passieren, um dieses wundervolle Kraftwerk Körper aufrechtzuerhalten. Damit seine Millionen lebenswichtigen Funktionen, die ganz ohne unser Bewusstsein, leise und heimlich, wie von selbst im Hintergrund ablaufen, damit dieses Ich als Mensch existieren kann, sich bewegen, lachen, denken, traurig sein. Und dann ärgern wir uns über diesen Körper, wenn er einmal nicht so funktioniert, wie wir es gewohnt sind. Wenn eine seiner zigtausend Funktionen aus dem Takt gerät. Als ob wir ein Recht hätten auf seine unermüdlich ergebene und dabei völlig stimmlose Mitarbeit. Wir sind davon überzeugt, ein Recht auf diese zu haben, und bedenken dabei nicht, dass es gar nicht um Mitarbeit geht, sondern vielmehr um existentielle Vorraussetzung menschlichen Daseins, um Körper als Basis des Lebens, weil wir ohne ihn gar nichts vermögen, so abhängig sind wir von ihm.
Das wird einem in einem solchen Moment der körperlichen Blockade erschreckend deutlich bewusst. Jedes Mal wieder ist es ein heftiger Schock, diese Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins an den eigenen Körper zu erleben, die eine plötzlich auftretende körperliche Behinderung zwangsläufig in einem hinterlässt. Meine Hand also machte nicht mehr mit und mich frustrierte das unendlich, hatte ich doch eine Arbeit hier zu verrichten. Ich saß vor dem Computer und versuchte mit der plötzlichen Schwäche der Hand irgendwie klarzukommen. Durch das Telefon prasselten die Informationen auf mich ein. Viel zu schnell, als dass ich sie mit dieser Hand hätte gewissenhaft eintippen können. Dann war das Telefonat auch schon vorbei, aber ich hatte noch lange keine Ruhe. Ich musste meine ganze Konzentration auf diese blockierte und überforderte Hand richten, dass sie mir half, die fehlenden Informationen noch nachzutragen. Da war der neue Anrufer schon in der Leitung und überschlug sich mit seinen Forderungen. Panne. Es regnet in Strömen. Bitte um Hilfe. Wer hilft mir? Ja, wer denn? Nur ich selbst hätte es in diesem Moment vermocht. Aber ich entschied mich, die Blockadehaltung meiner Hand mit Gewalt zu überwinden. Meine ganze Konzentration musste ich gegen ihre Bewegungsträgheit ausrichten, dass sie mir doch langsam, in ihrem abgehackten und schwerfälligen Tempo entgegenkam und meinen Willen ausführte. Ihre Bewegungen aber blieben trotz unglaublicher Kraftanstrengung unsauber, gehemmt, träge. Und sie kosteten mich so unendlich viel Energie. In mir wuchs die Anspannung. Die Verkrampfung meiner Hand stand mir auch ins Gesicht geschrieben. Ein Schwall von Stresshormonen durchflutete meinen Körper, machte mich fahrig, nervös, erschöpfte mich noch mehr.
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