Wer hat diesen Button hier verloren? Und warum war der schmale Durchgang offenbar nur in eine Richtung benutzt worden?
Die Zeitungsmeldung an einem ihrer ersten Praktikumstage über den vermissten ehemaligen Offizier fiel ihr ein.
Als ihre Fantasie schließlich mit ihr durchzugehen drohte und sie sich vorstellte, dass der Button von einem menschlichen Körper stammte, der durch das Schilf…
Weiter kam sie nicht und brachte sich selbst durch ein halblautes kopfschüttelndes Lachen wieder in die Gegenwart zurück. Als wenn sie die Furcht abgeworfen hätte.
Für die Rückfahrt entschloss sie sich zu einem kleinen Umweg an den Peenestrom. Sie erreichte nach wenigen Kilometern auf der asphaltierten Ringstraße die gesuchte Einfahrt, umkurvte meterbreite wassergefüllte Löcher, bis sie am Ziel war. Eine von vielen Löchern durchsetzte Grasfläche reichte fast bis ans Wasser, dessen Wellen der stärker werdende Wind in kurzen Abständen ans Ufer schlagen ließ. Pia suchte sich eine windgeschützte Mulde und setzte sich auf ihre Isomatte. Beim direkten Blick in die Nachmittagssonne schlossen sich ihre Augen. Die anstrengende Radtour steuerte ein Übriges bei.
Ein heller Schrei holte Pia aus ihrem Traum. Neugierig blickte sie nach oben und erkannte den Vogel.
Majestätisch segelte der Seeadler über dem Ufer. Die wie ausgefranste Schals wirkenden Schwingen erstreckten sich trotz des Windes bewegungslos zu beiden Seiten des Körpers. Der Vogel zog seine Kreise, immer enger werdend, über genau diesem Fleck Erde, den die Einheimischen als Nordstrand bezeichneten. Das Tier schien ein bestimmtes Ziel in seinem scharfen Blick zu haben. Pia schaute sich um, nahm jedoch nichts Auffälliges wahr.
Müde von den vielen Eindrücken und der anstrengenden Radtour entschloss sie sich zum Heimweg. Der Adler flog inzwischen noch tiefer, wie sie erstaunt und ehrfürchtig feststellen musste. Pia blieb an ihrem Fahrrad stehen und blickte zu ihm empor. Sie war davon so vollständig gefangen, dass sie nichts von dem bemerkte, was ringsherum geschah.
3 Mittwoch, 31. Oktober, 20.30 Uhr
Je tiefer die Stiefel im taunassen Gras versanken, desto mehr stieg die Stimmung von Hans Waldeck. Er ignorierte die ins Gesicht schlagenden nassen Zweige. Seine kleine gedrungene Gestalt bewegte sich geschmeidig und fast unhörbar durchs Revier. Alle seine Sinne waren auf Empfang gestellt. Besser noch als früher jedes technische Gerät in seinem Cockpit konnte Hans sofort auf alles reagieren, was sich in seiner Umgebung tat. Er ging förmlich auf in der Umgebung, die er während seiner Dienstzeit beim Jagdfliegergeschwader immer besser kennen und schließlich lieben gelernt hatte. Seine treue Hündin Dina bekam wie immer den Vorzug vor Falko, dem jungen Husky-Rüden. Dessen stahlblaue, durchdringende Augen flößten zwar Respekt ein, er war jedoch für die Jagd nicht geeignet. Zu wild, zu schwer zu beherrschen.
Die Hündin mit ihrem dunkelbraunen glatten Fell fühlte sich ganz in ihrem Metier. Sie war in ihre Rolle hineingewachsen, als Gehilfin ihres Herrn, mit der Aufgabe, Wild sofort zu bemerken und unauffällig zu signalisieren, damit der Jäger sich auf das Waidwerk konzentrieren konnte.
Endlich hatte Hans wieder Zeit und Muße und vor allem beste Bedingungen für sein größtes Hobby. Der klare sonnige Tag hatte gutes Büchsenlicht für den Abend angekündigt. Das wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen.
Schießen war schon immer eine Passion im Leben von Hans Waldeck. Das Gefühl, wie Auge, Kimme, Korn und Finger am Abzug eins wurden, den richtigen Moment abwarteten, das Ziel trafen, mit wenig Kraft, aber viel Konzentration fatale Wirkung erzielten, faszinierte ihn seit seiner Kindheit. Das eingespielte Paar aus Jäger und Hund näherte sich lautlos dem Schilf am Ufer des Peenestroms, bewegte sich jetzt in nördliche Richtung immer nahe am Wasser. Allmählich wurde das Gelände etwas freier und damit trockener. Der Nordstrand, eine etwa hundert Meter breite Lücke im ansonsten baumbestandenen Ufer, wurde im Sommer gern als Badestelle genutzt. Dina beschleunigte jetzt ihre Schritte und lief zielstrebig in Richtung Wasser. Lächelnd gönnte Hans seiner treuen Hündin dieses Vergnügen. Ja, sie kennt die Gegend genauso gut wie ich , dachte er, und konnte zu seiner Freude keine andere Person entdecken.
Plötzlich zog Dina beharrlich und ungeduldig an der Leine. Weder der Gegenzug von Hans Waldeck noch sein kaum hörbar gezischtes Kommando „Platz!“ zeigten Wirkung. Hans war kurz davor, ungeduldig zu werden, bisher hatte er sich immer auf seine Hündin verlassen können, ihr Gehorsam war Garant für ihr gutes Verhältnis.
Hans gab dem Zug der Hündin schließlich nach und ließ sie, die Leine jedoch straff haltend, laufen wohin sie wollte. Gleichzeitig suchte sein Blick sorgfältig die Umgebung ab und er lauschte auf jedes Geräusch.
Kein Mensch. Vielleicht ein totes Tier, vermutete er.
Direkt am Ufer blieb die Hündin vor einem Busch stehen und blickte zu Hans auf, ohne Laut zu geben. Ihre Augen schienen zu sagen: Hier ist etwas für mich, für dich, also für uns.
Hans sah sich immer noch ergebnislos um, was auch Dina bemerkte. Sie spürte, dass ihr Herr einen deutlicheren Hinweis brauchte und versenkte ihre Schnauze direkt in den Busch. Sie suchte etwas, fand es schließlich – und zog daran. Hans nahm seine Taschenlampe zu Hilfe, leuchtete so unauffällig wie möglich – und dann erstarrte er vor Schreck.
Dina hatte eine menschliche Hand zwischen ihren Zähnen. Er ließ den Lichtschein über die Wasseroberfläche unmittelbar neben den Ästen des Busches gleiten, musste näher treten und leuchtete direkt von oben ins Wasser, um die Reflexion zu vermeiden. Er sah einen unbekleideten menschlichen Körper im flachen Wasser liegen, konnte ihn aber nicht im Ganzen beleuchten, musste es schrittweise tun. Das Licht der Taschenlampe zeigte ihm, dass er hier die Leiche einer Frau gefunden hatte.
Dina ließ auf das entsprechende Kommando die Hand wieder los, war völlig verunsichert. Nicht nur wegen dieses ungewohnten Fundes mit dem unbekannten Geruch, der keinem der ihr bekannten Beutetiere entsprach, sondern auch wegen der Reaktion ihres Herrn. Vorsichtshalber blieb sie einfach sitzen und wartete, was passieren würde. Hans lobte seine Hündin mit leisen Worten.
Als der schmale Schein der Taschenlampe schließlich den Kopf der Toten traf, der sich zwischen den Gräsern am Ufer verborgen hatte, erschrak Hans erneut.
Er sah kein Gesicht.
Große Teile des Schädelknochens leuchteten gespenstisch hell im Mondlicht. Die ursprünglich wohl blonden Kopfhaare erschienen durch ihre Nässe dunkel.
Und noch etwas erkannte er: der rechte Arm der Leiche war mit einem dünnen Plastikseil an dem Busch befestigt.
Hans Waldeck versuchte, seine Gedanken zu ordnen, zwang sich zur Ruhe, strich seiner Hündin über Kopf und Rücken.
Plötzlich erschrak er und blickte sich hastig um. Wenn nun…
Hans schoss durch den Kopf, die Person, die für die Leiche verantwortlich war, könnte noch in der Nähe sein und ihn beobachten.
Aber Dina zeigte keinerlei Anzeichen dafür, dass ihre empfindliche Nase die Witterung eines anderen Lebewesens wahrgenommen hätte. Das beruhigte Hans schließlich. Er war es gewöhnt, in allen Situationen selbständig zu handeln. Doch nun fühlte er sich herausgefordert. Er nahm sein Mobiltelefon aus der Innentasche der winddichten Jacke und wählte die 110. Nach dem Telefonat blieb ihm nichts übrig, als der Bitte des Beamten zu folgen und an Ort und Stelle zu warten.
Erste Überlegungen suchten sich den Weg, er versuchte, eventuelle Zusammenhänge herzustellen. Doch auch ein nochmaliges vorsichtiges Ableuchten der Leiche mit der Taschenlampe brachte kein Ergebnis. Er wusste nicht, wer die tote Frau war. Hans Waldeck hatte den Berufsweg eines Offiziers hinter sich, das Sterben war dabei immer gegenwärtig. Der Tod des Gegners, des Kameraden, der eigene – obwohl der Verdrängungsreflex immer besser funktionierte. In seinen fünfundzwanzig aktiven Dienstjahren hatte Oberstleutnant a.D. Hans Waldeck nicht einen einzigen Toten zu Gesicht bekommen.
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